«Ortsnahe Wohnungen sichern Lebensqualität im Alter»

Herr Acocella, wie beeinflussen die steigende Anzahl von Single-Haushalten und die Überalterung der Gesellschaft die Raumentwicklung in der Ostschweiz?
Beide Phänomene existieren parallel, stehen aber nicht zwingend in direktem Zusammenhang. Die wachsende Zahl an Single-Haushalten im erwerbsfähigen Alter spiegelt veränderte Lebensentwürfe wider, während die Überalterung der Gesellschaft sowohl eine Folge der demografischen Entwicklung als auch der steigenden Lebenserwartung ist. Für die Raumentwicklung bedeutet das, dass wir nicht nur auf diese beiden Aspekte schauen dürfen, sondern sie im Kontext anderer Megatrends wie Klimawandel, Digitalisierung oder veränderte Arbeitswelten betrachten müssen. Klar ist jedoch: Wir müssen zukünftig Wohnungen anders und vor allem an zentralen Orten bauen – sowohl für Singles als auch für ältere Menschen.
Welche Herausforderungen ergeben sich für Gemeinden, um den Wohnbedarf einer alternden Bevölkerung zu decken?
Ältere Menschen sind keine homogene Gruppe. Während aktive Senioren weitgehend uneingeschränkt am öffentlichen Leben teilnehmen können, sind weniger aktive Senioren auf eine angepasste Wohnumgebung angewiesen. Die Rolle der Gemeinden besteht vor allem darin, sicherzustellen, dass an den richtigen Standorten gebaut wird. Ortskerne mit Geschäften des täglichen Bedarfs und guter ÖV-Anbindung sind ideal. Doch genau dort fehlt oft der Platz, sodass Nachverdichtung notwendig ist. Diese planerisch und sozial verträglich umzusetzen, ist eine der grössten Herausforderungen.
Wie können bestehende Wohnquartiere besser auf die Bedürfnisse von Senioren ausgerichtet werden?
Kleinere Wohneinheiten mit zwei oder drei Zimmern sind essenziell, wobei darauf zu achten ist, dass keine isolierten Altenquartiere entstehen. Sozial gemischte Wohnräume sind entscheidend, ebenso wie Barrierefreiheit und eine gute Erreichbarkeit von Einkaufsmöglichkeiten, ÖV-Haltestellen und sozialen Angeboten. Je kürzer die Wege, desto länger bleibt die Selbstständigkeit erhalten.
Welche Wohnformen gewinnen durch die demografischen Veränderungen an Bedeutung?
Viele ältere Menschen wohnen in zu grossen Wohnungen. Es müssen mehr kleinere Wohneinheiten entstehen, möglichst in der Nähe der bisherigen Wohnorte. So wird der Umzug attraktiver, und grössere Wohnungen werden für Familien frei. Doch ältere Menschen benötigen oft Unterstützung bei der Wohnungssuche und beim Umzug – hier gibt es noch Handlungsbedarf.
Gibt es Beispiele aus der Ostschweiz, wo Gemeinden aktiv auf Überalterung reagiert haben?
Mir ist keine Gemeinde bekannt, die ein explizites «Altenförderprogramm» aufgelegt hat. Häufig wird versucht, Altersheime in die Ortsmitten zu verlagern oder Mehrgenerationenhäuser zu ermöglichen. Das Thema Hitzeschutz als Massnahme zur Verbesserung der Wohnumgebung für ältere Menschen ist noch wenig verbreitet.
Wie können Kommunen durch Raumkonzepte der sozialen Isolation im Alter entgegenwirken?
Nicht-kommerzielle Begegnungsorte, die das ganze Jahr über nutzbar sind, sind zentral. Das können kleine Parks oder Räumlichkeiten in zentralen Gebäuden sein. Gemeinden sollten auch soziale Projekte fördern, bei denen ältere Menschen aktiv eingebunden werden – etwa in Museen oder Bibliotheken. Wer seine Nachbarschaft kennt, bleibt länger selbstständig.
Welche Unterschiede bestehen zwischen urbanen und ländlichen Regionen bei der altersgerechten Infrastruktur?
Städtische Gebiete bieten eine engere Infrastruktur und bessere ÖV-Anbindung, können aber für ältere Menschen auch stressiger und lauter sein. Ländliche Gemeinden haben zwar oft eine ruhigere Umgebung, können aber viele Angebote wirtschaftlich nicht stemmen. Hier ist ein gut ausgebauter ÖV essenziell, um Defizite auszugleichen.
Inwiefern kann Digitalisierung in der Raumplanung helfen, Herausforderungen der alternden Gesellschaft zu bewältigen?
Digitale Lösungen können helfen, Wohnraum effizienter zu verwalten und Quartiere hitzeangepasst zu gestalten. Gerade flexible Mobilitätsangebote wie Rufbusse oder vernetzte Nahverkehrssysteme profitieren enorm von digitalen Steuerungen.
Welche raumplanerischen Massnahmen könnten helfen, den demografischen Druck auf Infrastrukturen wie Verkehr und Gesundheitswesen zu mindern?
Ein zentrales Prinzip ist die Reduktion der Wegelängen. Wohnen, Einkaufen und soziale Angebote müssen näher zusammenrücken – das Konzept der 10-Minuten-Stadt oder des 10-Minuten-Quartiers spielt hier eine Schlüsselrolle. Je kürzer die Wege, desto länger bleibt die Selbstständigkeit erhalten. Eine durchdachte Quartiersplanung kann zudem der Vereinsamung entgegenwirken.
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Welchen Einfluss haben Single-Haushalte auf den Flächenbedarf in der Ostschweiz?
Mehr Single-Haushalte bedeuten einen höheren Flächenverbrauch pro Kopf. Die Herausforderung besteht darin, Wohnungen so zu gestalten, dass sie trotz kleinerer Fläche ein angenehmes Wohngefühl bieten. Hier ist auch die Architektenschaft gefragt.
Welche politischen Weichenstellungen sind aus raumplanerischer Sicht nötig, um diese Herausforderungen nachhaltig zu meistern?
Statt nur auf Verdichtung zu setzen, müssen gezielte Anreize für kompaktere Wohnformen und Nachverdichtung geschaffen werden. Weniger Fläche pro Person zu verbrauchen, bedeutet nicht weniger Lebensqualität – wenn die richtige Infrastruktur vorhanden ist.