«Ich kann alles, wenn ich es will»
Flore Espina ist ein vierjähriges Mädchen, als sie zum ersten Mal auf ein Pferd gehoben wird. Was sie in diesem Moment fühlt, wird sie erst Jahre später mit Worten beschreiben können. Es hat sich seit diesem Tag jedoch nie verändert: «Freiheit. Das ist Reiten für mich. Eins mit dem Pferd zu sein und einfach frei zu sein», sagt die 36-jährige Dressurreiterin, zu der Flore herangewachsen ist. Die gebürtige Neuenburgerin hat eine klare Vorstellung davon, was Freiheit ist. Nicht nur, weil sie heute die Worte dafür hat, sondern weil ihr diese in einem kurzen Moment brutal entrissen wurde. Im August 2006, sie lebt damals in Spanien, erleidet sie einen schweren Motorradunfall. Ein offener Bruch von Schien- und Wadenbein führt im Spital zu Komplikationen und Wundbrand. Schliesslich muss das linke Bein unterhalb des Knies amputiert werden. Über 100 Tage Spitalaufenthalt und mehr als 20 Operationen zerren physisch und mental an der damals 21-Jährigen. Ihre Welt besteht plötzlich voller neuer Grenzen und Einschränkungen. Doch Flore Espina fällt in diesen schweren Stunden den wichtigsten Beschluss ihres Lebens. «Ich wollte nicht mehr dem nachzutrauern, was ich nicht mehr konnte. Stattdessen wollte ich herausfinden, was ich alles trotzdem kann.»
Die Freiheit zurückerkämpft
Die eine Sache, die sie wieder spüren wollte, war dieses Gefühl der Freiheit, das sie über so viele Jahre bei den Pferden fand. «Ich habe damals die Disziplin der Para-Dressage entdeckt. Das gab mir ein klares Ziel: Wieder reiten zu können.» Zunächst ist alleine schon das Aufsteigen auf das Pferd eine enorme körperliche Herausforderung. Es ist aber auch der Beginn eines beeindruckenden Comebacks ins Leben. Heute steht Flore Espina im Paradressur-Elitekader der Schweiz. Zudem klettert und surft sie regelmässig oder steht als Model vor der Kamera. Ein Studium in Tiermedizin hat sie ebenfalls abgeschlossen und ist mittlerweile Mutter eines 8-jährigen Sohnes. «Durch die Rückkehr zum Reiten wurde mir bewusst, dass all diese Grenzen nur in unseren Köpfen existieren. Mir wurde klar: ich kann alles, wenn ich es will.» Und Flore Espina, die heute im südspanischen Cádiz lebt, weiss genau, was sie als nächstes will: Für die Schweiz an den Paralympics 2024 in Paris antreten. «Das ist mein Traum und mein sportliches Ziel.» Derzeit trainiert sie sieben Tage die Woche auf dieses Ziel hin. Ein strenges Regime, doch eines hat sich nicht verändert: «Jedes Mal, wenn ich auf dem Pferd Sitze bin ich frei. Heute mehr als je zuvor.»