Über den Wert der Berufslehre
Letizia Wenger, was für eine Lehre haben Sie gemacht?
Ich habe eine kaufmännische Lehre absolviert.
Würden Sie rückblickend wieder diesen Weg einschlagen?
Ja, auf jeden Fall. Die vielfältigen, wertvollen Erfahrungen, die ich dank der Lehre sammeln konnte, möchte ich nicht missen. Ich bin ein «Learning by Doing»-Typ; ich wollte früh erleben, wie sich das reale Berufsleben in einem Betrieb anfühlt.
Lehren sind in der Schweiz ein Teil des Rückgrats der Berufslaufbahn. Doch nicht alle jungen Leute sind heute noch begeistert von der Idee einer Lehre. Spüren Sie diesen Trend auch?
Ich bezweifle, dass der Weg der dualen Ausbildung wirklich unter Druck ist. Aber falls er es sein sollte, dann nicht wegen den Jugendlichen, sondern vielmehr wegen den Eltern, die für Ihre Kinder nur «das Beste» wollen und dabei vielleicht den Wert einer Lehre nicht richtig einschätzen.
Tatsache ist aber, dass viele Betriebe derzeit Mühe haben, Lehrlinge zu finden.
Ja. Auch für die Mitglieder von Chance Industrie Rheintal ist es in letzter Zeit tatsächlich schwieriger geworden, jedes Jahr alle Lehrplätze zu besetzen. Ich führe diese Entwicklung aber eher auf unsere demografische Entwicklung zurück. Die Initianten des Vereins erkannten diese Entwicklung bereits vor 17 Jahren. Deshalb gründeten sie Chance Industrie Rheintal.
Welche Branchen leiden im Rheintal besonders unter fehlenden Lehrlingen?
Gemäss meinen Erfahrungen haben alle Branchen, auch die weiterführenden Schulen, mit den gleichen Problemen zu kämpfen.
Seit vielen Jahren ist der Berufsevent von Chance Industrie Rheintal ein wichtiger Anlass, um Jugendliche im Berufswahlprozess zu unterstützen. Letztes Jahr war sogar US-Botschafter Scott Miller zu Besuch. Wie kam es dazu?
Immer wieder zeigen Personen aus den USA Interesse an der Berufsbildung in der Schweiz. So weilten in den letzten Jahren unter anderem Jill Biden (aktuelle First Lady), Suzie LeVine (ehemalige US-Botschafterin) oder eben Scott Miller in der Ostschweiz. Sie wollten einerseits Kontakte mit der Industrie knüpfen, andererseits unser duales Bildungssystem vertieft kennenlernen.
Und was hält Scott Miller von der Lehrlingsausbildung in der Schweiz?
Er staunte nicht schlecht, dass bei uns 15-Jährige ins Berufsleben einsteigen. In den USA ist das undenkbar. Zudem zeigte er keinerlei Berührungsängste. Der US-Botschafter unterhielt sich mit Lernenden und Berufsbildnern – und er legte an den Berufsständen auch gleich selbst Hand an. Scott Millers Begeisterung für den dualen Ausbildungsweg, den in der Schweiz zwei Drittel aller Jugendlichen wählen, war spür- und sichtbar.
Welche Unterstützung erhalten die Jungen (und ev. auch ihre Eltern) an Ihren Berufsevents konkret?
Am Berufsevent von Chance Industrie Rheintal stellen wir Industrieberufe auf interaktive Art und Weise vor. Jugendliche und ihre Eltern profitieren von einem direkten Kontakt zu Lernenden oder Berufsbildnern und können niederschwellig Fragen stellen. Wir geben Informationen über den Beruf, die Ausbildungsbetriebe und die anschliessenden Weiterbildungsmöglichkeiten im Berufsleben. Zudem ist die Berufs- und Laufbahnberatung am Berufsevent präsent. Für Eltern, Berufsbildner, Lehrkräfte und weitere Interessierte bieten wir darüber hinaus das Querbeet-Forum: Hier diskutieren Menschen aus der Praxis über aktuelle Themen. Dieses Jahr zum Beispiel über den «Druck im Berufswahlprozess».
Wie erfolgreich sind diese Events?
100 Prozent aller Oberstufenklassen im Rheintal besuchen den Berufsevent. Das allein ist schon ein riesen Erfolg, der uns stolz macht. Viele Schüler erhalten dadurch Einblick in eine Branche, die sie sonst vielleicht nie kennengelernt hätten. Wie viele Lehrstellen tatsächlich aufgrund des Berufsevents vergeben werden, ist aber schwierig zu sagen.
Der Berufsevent soll um die Regionale Berufs- und Ausbildungsmesse (RBAM) erweitert werden. Wie ist der Stand der Arbeiten?
Aufgrund der guten Zusammenarbeit mit den regionalen Schulen und der Beliebtheit unseres Berufsevent-Modells sind wir von den Schulen beauftragt worden, neben den industriellen Berufen weitere Ausbildungsmöglichkeiten in die Messe zu integrieren. Eine Spurgruppe, bestehend aus Mitgliedern von SchuWi (Schule und Wirtschaft) und des Vorstands von Chance Industrie Rheintal, befindet sich in der Konzeptionierungsphase. Besonders erfreulich ist, dass auch die Kantonsschule Teil der Spurgruppe ist. Seitens der politischen Gemeinden, der Mitglieder von Chance Industrie Rheintal und weiterer Interessierter ist grosser Support für die neue regionale Berufs- und Ausbildungsmesse zu spüren. Bei RBAM handelt es sich übrigens noch um einen Arbeitstitel. Schon bald dürfen wir mehr über den neuen Berufsevent verraten.
Welchen Zusatznutzen soll die neue Messe bringen?
An der RBAM werden sich neben den industriellen Berufen möglichst viele weitere Ausbildungsberufe des St.Galler Rheintals präsentieren. Letztlich gilt es, den Jugendlichen die attraktiven Ausbildungs- und Karrieremöglichkeiten in ihrer Heimat vor Augen zu führen, um sie schon früh für einen Verbleib in der Region zu motivieren. Eine starke regionale Wirtschaft mit vielfältigen Ausbildungs- und Karrieremöglichkeiten ist die Grundlage für eine attraktive Wohnregion.
Und wann soll die erste Regionale Berufs- und Ausbildungsmesse eröffnet werden?
Wir rechnen damit, im Herbst 2024 sie erstmals durchführen zu können.
Text: Patrick Stämpfli
Bild: Elke Hegemann