Vielfalt statt Einfalt
Die Redaktion des LEADERs hat mich als Kolumnisten eingeladen, für die Jubiläumsnummer einen längeren Text zu schreiben – Thema frei. Ich habe bisher in den letzten 50 Jahren in verschiedensten lokalen, nationalen und internationalen Medien über 1300 Artikel publiziert und meine Kolumnen im LEADER bringen oft längere und kompliziertere Texte auf jenen aktuellen Kernpunkt, der sich in 1200 bis 1700 Zeichen konzentriert festhalten lässt. Vor zwei Jahren wählte ich für eine meiner Kolumnen den oben stehenden Titel. Er passt sehr gut zu meinem Beitrag zur Jubiläumsnummer für das von mir geschätzte Ostschweizer Unternehmermagazin. Mit dem Slogan «Vielfalt statt Einfalt» wird in letzter Zeit auf Plakaten auf die Bedeutung der Artenvielfalt in der Natur hingewiesen. Aber auch die Kultur und die Wirtschaft als einer ihrer wichtigsten Pfeiler sind auf jene Vielfalt angewiesen, die Anpassungsfähigkeit, Lernfähigkeit, Kreativität und Robustheit hervorbringt. Das sind vier Säulen einer nachhaltig funktionierenden Entwicklung, die keine noch so raffinierte staatliche Planung gewährleisten kann.
Die Geschichte der Ostschweiz, und vor allem ihre Wirtschaftsgeschichte, ist die Chronik einer Vielfalt, bei der sich mentalitätsmässige Ähnlichkeiten mit einer grossen Vielfalt von historischen Strängen verbinden. Drei Kantone der Ostschweizer Regierungskonferenz (Glarus, Schaffhausen und die beiden Appenzell) gehörten schon zur Alten Eidgenossenschaft; St.Gallen, Thurgau und Graubünden sind erst seit 1803 als gleichberechtigte Bundesglieder dazugestossen. Das «typisch Ostschweizerische» ist vermutlich der kreative Umgang mit diesen Verschiedenheiten. Selbst der kleine Kanton Appenzell besteht aus zwei Halbkantonen – und Appenzell Ausserrhoden, mein Heimatkanton, besteht aus dem Hinterland, dem Mittelland und dem Vorderland mit unterschiedlichen Dialektfärbungen.
In einer Zeit des schnellen technologischen Wandels überleben nur Unternehmungen, die traditionelle Werte mit den permanenten Veränderungen bei der Nachfrage in Einklang bringen können. Das bedeutet nicht, dass alle gleichzeitig dem aktuellsten Markttrend und dem derzeit populärsten Managementmodell nachjagen müssen. Typisch ostschweizerisch ist eine Kombination von Traditionsbewusstsein, Verlässlichkeit, Kreativität und Weltoffenheit. Diese Eigenschaften haben in schwierigen Zeiten sowohl das Überleben der Textilindustrie als auch der Maschinenindustrie gewährleistet, und sie schaffen auch gute Voraussetzungen für die Branchenvielfalt im heute expandierenden Dienstleistungsbereich.
Der Föderalismus, ursprünglich eine konservative Ideologie, ist zur empirisch getesteten Basis effizienter und zukunftsträchtiger polit-ökonomischer Strukturen geworden. Dass er letztlich Unvereinbares verbinden will, gehört zu seinem Wesen.
Seine Vieldeutigkeit birgt einerseits die Gefahr des Missverständnisses, andererseits aber auch die Chance, sich abwechselnd kooperativ und dissident zu verhalten. Trotz aller medialen Kritik an den Nachteilen sogenannter «Flickenteppiche» erkennen unvoreingenommene Beobachter, dass der «Geist des Föderalismus» nicht konservativ ist, sondern die Übertragung der Idee des Wettbewerbs als Lernprozess und als Entdeckungsverfahren auf politische Gemeinschaften ermöglicht. Im Leben ist, anders als in der Schule, «abgucken» erlaubt. Wer voneinander lernen will, muss allerdings nicht alles gleich machen. Erfolg ist oft, auch in der Politik, nicht tel quel kopierbar und beruht häufig auf einer zufälligen Kombination von günstigen historischen Bedingungen, die sich stets dem Test der Nachhaltigkeit stellen müssen. Wer nicht alles zentral Propagierte sofort umsetzt, läuft auch nicht Gefahr, blind den neuesten Irrtümern nachzurennen.
Zentralismus, Merkantilismus, Kollektivismus und Nationalismus wurden im 19. und 20. Jahrhundert als Treiber des Fortschritts gepriesen, und wer da nicht mitmachte, wurde schnell einmal als Hinterwäldler bezeichnet. Rückblickend haben diese -ismen der Welt die Katastrophen von zwei Weltkriegen beschert, und die Schweiz ist mit dem Festhalten an gegenläufigen Prinzipien nicht schlecht gefahren. Eine gewisse politische Bedächtigkeit, wie sie die Schweiz als Ganzes und insbesondere die Ostschweiz charakterisiert, ist nicht fortschrittsfeindlich. Man kann nicht langsam genug in die falsche Richtung gehen.
«Small is beautiful» gilt als Maxime nicht nur gegenüber Staaten und Regierungen, sondern auch gegenüber Unternehmungen. Die Haftungsbeschränkung juristischer Personen hat dem Kapitalismus weltweit Auftrieb gegeben. Sie hat den Drang zur Grösse begünstigt, aber die Risiken erhöht. Je grösser eine Unternehmung oder eine Unternehmergruppe ist, desto eher wird sie im Fall von drohender Insolvenz als «systemrelevant» vom Staat unterstützt und «gerettet». Das hat jene korporatistische Tendenz zur Zusammenarbeit von Staat und Wirtschaft gefördert, die aus liberaler Sicht weder für den Staat noch für die Wirtschaft wünschenswert und zukunftsträchtig ist. Grösse behindert auch die Wendigkeit und die Kreativität, zwei wichtige Voraussetzungen des wirtschaftlichen Erfolgs. Das Zentralisieren und Harmonisieren durch politischen Zwang verschärft und vergrössert die Probleme, selbst wenn dieser Zwang durch temporäre Mehrheiten legitimiert ist.
Krisen können erfahrungsgemäss am besten durch gemeinsames Lernen in kleineren Einheiten und durch schrittweises non-zentrales Problemlösen bewältigt werden. In Kriegs- und Krisenzeiten gibt es zwar legitime Gründe für mehr politischen Zwang und mehr Zentralismus, aber die Rückkehr zu friedlich kooperierenden Gebietskörperschaften, die den Austausch von Rohstoffen, Gütern und Dienstleistungen zulassen und erleichtern, statt ihn zu behindern, ist die vordringlichste Herausforderung der Gegenwart. Eine konsequentere Trennung von Politik einerseits Wirtschaft und Kultur anderseits und die Beschränkung der Politik auf die wirklich notwendige Ordnungs- und Friedensgewährleistung bleiben als Fernziele aktuell und sollten nie aus den Augen verloren werden.