Frustration und Tragödie
Text: Louis Grosjean, Partner altrimo
Frustration. Wie oft erleben wir dieses Gefühl? Ein mit Herzblut vorangetriebenes Projekt, das in letzter Instanz gestoppt wird. Ein überdurchschnittliches Engagement im Vertrieb ohne jeden Erfolg. Ein neues unternehmerisches Standbein, das an behördlichen Schikanen scheitert. Es gibt unzählige Beispiele von Frustration. Leader erleben dieses Gefühl oft genug. Wie gehen wir damit um?
Eine Antwort kann sein, eine hohe Frustrationstoleranz zu entwickeln. Gelassenheit, ja Gleichgültigkeit kann eine Haltung sein. Diese treffen wir eher bei stark fremdbestimmten Führungskräften in grossen Organisationen: Grosskonzerne, Staat. Gut möglich, dass diese hohe Frustrationstoleranz glücklicher macht.
Sie ist jedoch mit Leadership nicht kompatibel. KMU-Unternehmer können nicht Misserfolge und Ungerechtigkeit ohne jede Emotion einfach akzeptieren. Wenn etwas schiefgeht, muss eine Reaktion her. Frustration hat dann eine emotional destruktive sowie eine kreative Seite. Die Frage ist, wie der Leader mit Frustration umgeht – und wie er deren destruktive Seite in den Griff bekommt. Eine Antwort darauf finden wir in der Theorie der griechischen Tragödie von Aristoteles.
Von der Mimesis zur Katharsis
Zur Erinnerung: Der griechische Philosoph Aristoteles lebte im 4. Jahrhundert vor Christus. Zu dieser Zeit erlebte Griechenland eine kulturelle Hochblüte, mit einem Strauss von Theaterstücken. Aischylos, Sophokles, Euripides haben der Welt beeindruckende Werke hinterlassen. Aristoteles definiert das Wesen der Tragödie in Kapitel 6 seiner Poetik wie folgt:
«Die Tragödie ist die Nachahmung (Mimesis) einer bedeutenden und in sich geschlossenen Handlung […], wobei sie durch Mitleid und Furcht hindurch die Reinigung (Katharsis) solcher Gefühle bewirkt.»
Interessant ist Folgendes: Im Gegensatz zu den Superhelden und Bösewichten zeitgenössischer Kinoproduktionen war der antike Held oft eine eher mittelmässige Figur. Damit die Tragödie ihre reinigende Wirkung beim Zuschauer bewirken kann, muss sich dieser mit dem Helden identifizieren können. Das setzt eine gewisse Ähnlichkeit und damit Durchschnittlichkeit voraus.
Weiter: Sehr oft enden diese antiken Tragödien nicht wie heutige Hollywood-Geschichten in einem Happy End, sondern eben tragisch. Dem Helden widerfahren Umstände – äussere, innere – die zu seinem Verderben führen. Das Schicksal des Helden soll beim Zuschauer mittels Mitleid und Furcht zur Reinigung der Gefühle führen. Statt negative Erlebnisse zu unterdrücken, zu negieren oder zu ignorieren, werden sie auf der Theaterbühne in ziselierter, emporstilisierter Form zur Schau gestellt. Dieser Prozess der Reinigung – genannt «Katharsis» – soll den Frustrationsabszess entleeren.
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Wo ist mein Theater?
Zurück zu unseren zeitgenössischen Leadern mit ihren Frustrationserlebnissen. Wo können sie ihren Katharsis-Prozess durchlaufen? Oft sind sie allein in ihrer Position. Sie können sich vielleicht mit dem Assistenten oder mit einem Verwaltungsrat austauschen, aber diese haben eine andere Position bzw. Perspektive als er.
Folgt man der Logik von Aristoteles, so muss sich der Leader einen Kreis von Bezugspersonen bilden, die in ungefähr gleicher Position ähnliche Sorgen haben. Vergleichbare Personen mit vergleichbaren Geschichten können einem guttun, um die eigene Seele von Frustrationserlebnissen zu reinigen.
Das klingt wie eine Selbsthilfe-Gruppe von Leadern. Wie eine Fuckup Night, nur in kleinerem Kreis. Business-Clubs und Unternehmer-Austauschplattformen wie das einstige Raiffeisen Unternehmerzentrum können den Rahmen für solche Prozesse bieten.
Was nehmen wir mit?
- Misserfolg und Frustration sind okay.
- Sie gehören besser auf die Bühne, als in den Limbus der Vergessenheit.
- Der gegenseitige Austausch unter Peers über Frustrationserlebnisse kann zur emotionalen Reinigung führen.
- Im Idealfall führt dieser Austausch zu einer kreativen Lösung in der Sache.