Gast-Kommentar

Das vielbeschworene Vertrauen

Das vielbeschworene Vertrauen
Louis Grosjean
Lesezeit: 4 Minuten

Alle rufen nach Vertrauen: Banken, Anwälte, Staat, Verkäufer, Lehrer und so weiter. Auch Leader fordern Vertrauen von ihren Team-Mitgliedern. Dieses viel beschworene Vertrauen sei allerdings anspruchsvoller und ambivalenter, als gemeinhin angenommen wird, skizziert Louis Grosjean in unserer Serie «LEADER-Philosophie».

Text: Louis Grosjean, Partner altrimo

Ohne Vertrauen geht es nicht. In der Familie nicht, bei der Arbeit nicht, in der Gesellschaft nicht. Wir brauchen Vertrauen für unser Miteinander. So ist zumindest die gängige Meinung. Und trotzdem erleben wir, dass Vertrauen täglich verletzt, ja missbraucht wird: von der kleinen Lüge über die misstrauende Nörgelhaltung bis zum regelrechten «Über den Tisch ziehen».

Vertrauen scheint also einerseits eminent wichtig zu sein, aber andererseits anspruchsvoll und ambivalent. Das hat mich zum Nachdenken gebracht. Und zur Lektüre des Buchs «Vertrauen – Die unsichtbare Macht» von Prof. Martin Hartmann, Rektor der Universität Luzern. Ich nehme folgende drei Gedankenzüge für Leader aus dieser Reflexion mit.

Vertrauen ist notwendig

Stellen wir uns einen Urmenschen vor. Er ist einsam in der Wildnis. Gefahren lauern überall. Ausruhen kann er kaum, sonst wird er von einem Wildtier im Schlaf gefressen. Mitten im Kreis der Gefahren muss er 360° im Auge behalten. Das überfordert ihn schnell.

Was macht er? Er schliesst sich mit anderen Urmenschen zusammen. Während einer Wache hält, sucht der zweite Nahrung, und der Dritte macht Feuer, um Wildtiere fernzuhalten und die Nahrung zu kochen. In dieser Zeit schläft der vierte. Die drei Urmenschen haben sich den Kreis der Gefahren aufgeteilt: Jeder muss «nur noch» 120° davon im Auge halten. Für die restlichen 240° vertraut er seinen Mitmenschen. Und der Schlafende vertraut den anderen für ganze 360°.

Nur so überleben die Urmenschen. Und so funktionieren auch die «Zellen des Vertrauens» in unserer Gesellschaft: Familie, Unternehmen, Organisationen, ja die ganze Gesellschaft. Wir brauchen die Nahrungsmittelindustrie für die Nahrungssicherheit und müssen ihr vertrauen, dass das Essen nicht giftig ist. Wir brauchen die Polizei für unsere Sicherheit und müssen ihr vertrauen, dass sie eingreift, wenn Verbrechen begangen werden.

Für Leader bedeutet es: nicht versuchen, 360° abzudecken und im Auge zu behalten. Denn die totale Kontrolle würde sie ruinieren. Leader müssen vertrauen – sie haben keine Wahl.

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Vertrauen macht verletzlich

Das Problem mit dem Vertrauen ist: Es macht verletzlich. Der schlafende Urmensch könnte eines Morgens aufstehen und entdecken, dass die anderen mit dem Essensvorrat verschwunden sind. Er ist wieder allein, dazu noch hungrig und fühlt sich betrogen – sofern er überhaupt noch am Leben ist.

Nicht nur der Vertrauensgeber, auch der Vertrauensnehmer macht sich verletzlich. Der Urmensch, der erfolglos von seiner Suche nach Nahrung zurückkommt, muss sich dem Zorn der anderen Urmenschen stellen. Er wird vielleicht von der Sippe verbannt.

Die Verletzlichkeit infolge von Vertrauensenttäuschung ist tatsächlich ein Problem. Es gibt Menschen, deren Vertrauensguthaben einfach aufgebraucht ist. Sie wurden als Vertrauensgeber zu viele Male oder zu grundlegend enttäuscht und können kein Vertrauen mehr geben. Oder als Vertrauensnehmer haben sie so oft versagt, dass sie sich selbst nicht mehr vertrauen. Sie sind vertrauensunfähig geworden.

Eine besondere Gruppe in der Bevölkerung bilden diejenigen Berufe, deren Aufgabe es ist, Vertrauensmissbrauch vorzubeugen oder die Scherben aufzulesen. Revisoren, Credit-Recovery-Manager von Banken und Anwälte haben solche Aufgaben. Diese Menschen brauchen eine besonders dicke Schicht Positivität und Reflexion, um ihre Vertrauensfähigkeit nicht zu verlieren.

Vertrauensunfähige Leute in einem Team zu haben, ist herausfordernd. Bis auf einen gewissen Grad kann der Leader vielleicht psychologische Aufbauarbeit leisten. Aber sein Einfluss bleibt beschränkt, zumal sich die Privatsphäre diesem entzieht. Für vertrauensunfähige Team-Mitglieder gibt es keine Allgemeinrezepte. Tendenziell werden sie in weniger interaktiven Funktionen eingesetzt: als Experten oder mit abgegrenzten Aufgabengebieten. Einige koppeln sich von Arbeitsorganisationen ab und machen sich selbstständig.

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Echtes Vertrauen geht über Opferbereitschaft

Vertrauen wird oft mit Verlässlichkeit verwechselt. Verlässlichkeit ist wichtig: Institutionen wie Banken müssen verlässlich sein. Die Verwaltung muss verlässlich sein – dazu dienen die zahlreichen Vorschriften, die ihre Tätigkeit regeln. Ärzte müssen verlässlich sein, weshalb ihre Ausbildung so lange dauert.

Echtes Vertrauen geht jedoch weiter. Wenn ich jemandem vertraue, muss ich glauben können, dass der Vertrauensnehmer bereit ist, seine Interessen hinter den Gegenstand meines Vertrauens zu stellen. Er muss opferbereit sein. Das müssen die Bank, die Verwaltung und der Arzt nicht.

Zurück zum Urmensch, der Wache hält: Stellen wir uns vor, dass ein gefährliches und hungriges Wildtier in die Nähe kommt. Er hat zwei Optionen: fliehen, oder seine Aufgabe erfüllen und die Sippe verteidigen. Die erste Option ist für ihn weniger gefährlich. Die zweite Option kann zu Verletzungen führen. Die anderen Urmenschen müssen ihrem Kameraden vertrauen, dass er in jedem Fall die zweite Option wählen wird, trotz Opfergefahr.

Leader müssen diese Opferbereitschaft im Team kultivieren und selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Das ist die notwendige Voraussetzung für den Aufbau von Vertrauen im Team. Team-Mitglieder müssen spüren, dass ihre Nachbarn links und rechts sie auch dann unterstützen werden, wenn es nicht in deren eigennützigem Interesse steht.

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