Gast-Kommentar

Unternehmer gesucht: 60-100 Prozent

Unternehmer gesucht: 60-100 Prozent
Louis Grosjean
Lesezeit: 4 Minuten

Kann man Teilzeit-Unternehmer sein? Ist das moralisch vertretbar? Ist das wirtschaftlich sinnvoll? Eine Reise durch die Zeit zeigt in unserer Serie «LEADER-Philosophie» von Louis Grosjean, wie unterschiedlich Menschen diese Fragen beurteilen. Und welche Faktoren entscheidungsrelevant sind.

Text: Louis Grosjean, Partner altrimo

Der Trend der Teilzeitarbeit breitet sich aus. Längst hat der öffentliche Sektor vorgelegt. Der private Sektor zieht nach – manchmal aus Überzeugung, öfter weil der Fachkräftemangel keine andere Wahl lässt.

Eine letzte Festung der Vollzeitarbeit leistet Widerstand: das Unternehmertum. Unternehmer müssen 100 Prozent, ja noch mehr geben! Unternehmer müssen kompromisslos für ihr Unternehmen da sein, sonst unterliegen sie ihren fleissigeren Mitbewerbern. Oder doch nicht?

Das moralische Wertependel

Zuerst ist die moralische Frage zu klären. Vor allem ältere Generationen verstehen nicht, dass man weniger arbeitet. Sie haben teilweise für ihr alltägliches Brot kämpfen müssen. Arbeiten ist fürs sie nicht nur eine Notwendigkeit, sondern eine Tugend. Jüngere Generationen haben nur den wirtschaftlichen Wohlstand gekannt. Sie fragen sich, ob sie alles im Leben den wirtschaftlichen Zielen unterordnen müssen – und sagen oft Nein. Arbeiten ist ein Gut wie andere und steht im Trade-off zu ihnen. Wer hat recht? Ist Arbeit moralisch ohnehin positiv zu werten, oder steht sie zur Debatte?

Philosophisch gesehen hatte die Antike eine komplett andere Werteskala in Bezug auf die Arbeit als wir. «Negotium» (lateinisch: das Geschäft) war die Negierung des erstrebenswerten «Otium» (Freizeit). Der freie Mann hatte möglichst viel Freizeit, z. B. um sich politischen Fragen zu widmen. Die wirtschaftliche Arbeit musste natürlich gemacht werden: Dafür hatte man Sklaven. Abschätzig äusserte sich Aristoteles dazu in seinem Werk Politik: «Grund für diese Gesinnung [Geldvermehrung] ist die emsige Bemühung um das Leben, doch nicht um das gute Leben.»

Dann kam das Christentum. Arbeit wurde nicht nur wirtschaftlich notwendig, sondern auch moralisch erstrebenswert. «Ora et Labora» (lateinisch: bete und arbeite), sagten die Benediktiner. Max Weber beschrieb die protestantische Ethik und stellte folgenden Zusammenhang her: Die asketische Lebensmoral führte zur Akkumulation von Vermögen. Dieses wurde in wirtschaftliche Vorhaben investiert. Damit kam die Industrialisierung zustande. Christen hatten zu arbeiten, zu sparen und zu investieren.

Unser derzeitiger Wohlstand rüttelt an dieser Ethik des Fleisses und der Sparsamkeit. Historisch gesehen ist der Teilzeit-Trend nachvollziehbar. Wir erleben eine Rückkehr des Wertependels in die Mitte. Ethisch gesehen würde ihn Aristoteles begrüssen (sofern die dafür freigewordene Zeit einer tugendhaften Betätigung gewidmet wird). Die moralische Geschichte der Arbeit ist nicht eindeutig, im Gegenteil. Aus der Moral ist kein Schluss zu ziehen.

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Die wirtschaftliche Realität

Geschichtlich gesehen ist also Teilzeitarbeit moralisch neutral. Ist sie denn wirtschaftlich sinnvoll? Ich stelle dazu einige Thesen in den Raum.

Die volkswirtschaftliche Sicht
Wenn Teilzeitarbeit von zwei Menschen wertschöpfender ist, als wenn einer der beiden Vollzeit arbeitet, ist Teilzeitarbeit wirtschaftlich sinnvoll.

Diese Bedingung wird bei Unternehmern schwieriger zu erfüllen sein, weil Unternehmer durch ihre Multiplikationswirkung an der Spitze der Wertschöpfung stehen. D. h. wenn ein Unternehmer sein Arbeitspensum reduziert, muss der Zugewinn an volkswirtschaftlicher Wertschöpfung durch die andere Person recht hoch sein, um die Reduktion wirtschaftlich zu rechtfertigen.

Die individuelle Sicht
Teilzeitarbeit bringt gegenüber Vollzeitarbeit eine individuelle Einkommenseinbusse mit sich, kann aber in einem Haushalt mit zwei Berufstätigen in der Summe wirtschaftlich sinnvoll sein. Auch bei Unternehmern ist das so. Man erlebt immer hin und wieder Paare, bei welchen einer die Festanstellung sucht und der andere ein Unternehmen gründet – und fünf Jahre später wechselt man die Rollen. Diese Kombination von Sicherheit und Unternehmertum kann Sinn machen.

Wirtschaftliche Ziele stehen oft und mit gutem Grund anderen Werten nach, wie z. B. die Wahrnehmung einer Familienrolle. Die Abwägung ist individuell vorzunehmen: Will ich mehr Familie oder mehr Geld? Was einfach nicht geht (und dennoch oft zu beobachten ist), ist der Anspruch auf beides.

Nicht zu unterschätzen: Der Unternehmer wird vom Geschäft stark eingenommen. Wenn er durch andere Stakeholder (z. B. Familie) ebenso stark beansprucht wird, kann der Spagat zur Mission impossible werden. Der Energiehaushalt gerät in Schieflage.

Viele Unternehmer sind neben ihrem eigenen Geschäft auch anderweitig engagiert: Vereine, Verbände, Politik, Militär usw. Gewisse Engagements sind geschäftsnah (und Teil des Networkings), andere deutlich weniger. Die Akkumulation von Engagements kann de facto zu einem Teilzeit-Pensum führen.

Die unternehmerische Sicht
Arbeiten mehrere Unternehmer auf gemeinsame Rechnung, so sind Trittbrettfahrer-Probleme zu vermeiden. Das Einkommen muss bei einer Pensumreduktion proportional gekürzt werden. Auch ist festzulegen, wie tief ein Pensum sein darf: Unter einer gewissen Grenze ist unternehmerische Verantwortung schlicht nicht möglich.

In der Schönwetterphase des Unternehmertums sind viele Modelle möglich. In stürmischen Zeiten (oder in der Aufbauphase, oder in einem Change-Prozess) sind die meisten untauglich. Teilzeit-Unternehmer müssen einen Plan haben, wie sie in Krisenzeiten wieder zu 100 Prozent und mehr im Unternehmen sind.

Mein Fazit zu Teilzeit und Unternehmertum: In vielen Situationen kann das funktionieren und sogar Sinn machen. In gewissen Konstellationen geht das nicht. Die nüchterne, wohlüberlegte Beurteilung des Einzelfalles entscheidet.

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