Soziale Anerkennung
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Text: Louis Grosjean, Partner altrimo
In einem früheren Artikel habe ich mich gefragt, was unsere Arbeit sinnvoll macht. Dabei habe ich sechs Dimensionen einer sinnstiftenden Arbeit identifiziert:
- Autonomie: Ich darf bis zu einem gewissen Grad selbst bestimmen, wie ich meine Arbeit gestalte.
- Expertise: Ich bin gut in dem, was ich tue.
- Wertschaffung: Ich erzeuge einen identifizierbaren Mehrwert für andere.
- Soziale Anerkennung: Für meine Tätigkeit werde ich von Dritten wertgeschätzt.
- Gemeinschaftsgefühl: Ich fühle mich als Teil einer Gemeinschaft bei der Arbeit.
- Gerechtigkeit: Bei der Arbeit werden die Ungerechtigkeiten auf einem tiefen, akzeptablen Niveau gehalten.
In diesem Artikel gehe ich im Speziellen auf die soziale Anerkennung ein.
Anerkennung: unsere Atemluft
Meine Arbeit ergibt zunächst mal einen Sinn, wenn sie einen Mehrwert erzeugt. Wenn ich als Notfallarzt das Leben einer dreifachen Mutter bei der Geburt ihres vierten Kindes rette, brauche ich keine Aufklärung über den erzielten Mehrwert.
Und dennoch verhält es sich mit der stillen Beobachtung des erzeugten Mehrwerts wie mit dem Apnoetaucher: Irgendwann geht die Luft aus. Es braucht Zufuhr von aussen, sprich: aktive Anerkennung dieses Mehrwerts. In diesem Kontext spricht man von sozialer Anerkennung, weil diese von anderen Individuen stammt.
Es gibt verschiedene Formen der sozialen Anerkennung. Eine davon ist die generelle Anerkennung eines Berufsstandes: Stelle ich mich an einem Networking-Anlass als Outbound-Callagent eines Versicherungsvermittlers vor, ist die Chance hoch, dass sich mein Gegenüber rasch abwendet. Ganz anders stehen die Chancen beim Neurochirurgen. Das Problem mit dem Berufsstand ist: So schnell wechselt man ihn nicht. Bin ich in einem schlecht anerkannten Beruf tätig, so bleibe ich dort, bis ich mich beruflich umorientiert habe. Ein aufwändiger Prozess ...
Eine weitere Form der sozialen Anerkennung ist die einzelfallbezogene Anerkennung. Die zum Ausdruck gebrachte Dankbarkeit eines Kunden wirkt stark aufbauend. Auch Rückmeldungen von Arbeitskollegen sind für das Selbstvertrauen zentral. Und nicht zuletzt stärkt die positive, differenzierte Wertschätzung eines Vorgesetzten den Mitarbeiter. Generell formuliert: Es geht um die Bestätigung des Subjekts und des von ihm erbrachten Mehrwerts in einer gewissen Situation durch andere Personen.
Die Aufrichtigkeit macht es aus
Eine weitere Differenzierung stelle ich in der Aufrichtigkeit der Anerkennung fest. Die wirksamste Anerkennung kommt von Personen, die keine Gegenleistung dafür erwarten; ansonsten kommt der Verdacht auf, dass die Anerkennung nicht wirklich ernst gemeint ist, sondern nur dazu dient, den Empfänger für eine weitere Botschaft positiv zu stimmen. Positive Feedbacks von Vorgesetzten sind dann am wirksamsten, wenn sie ohne jegliche Begleitaufträge oder sonstige Bemerkungen zum Ausdruck gebracht werden.
Anerkennung muss nicht immer positiv sein. Sie kann darin bestehen, ein kritisch-konstruktives Feedback zu geben, das von einer intensiven Auseinandersetzung mit der Feedback-empfangenden Person und einem aufrichtigen Interesse an ihrer Weiterentwicklung zeugt.
Der kategorische Imperativ von Kant
Schliesslich möchte ich die Beziehung zwischen sozialer Anerkennung und dem kategorischen Imperativ des Philosophen Immanuel Kant herstellen. Kant hat folgenden Satz formuliert: «Handle so, dass die Menschheit sowohl in deiner Person, also auch in der Person eines jeden anderen zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel braucht». In unserem Kontext bedeutet dies: Anerkennung ist dann sinnstiftend, wenn sie der Person als Selbstzweck, nicht der Person ausschliesslich als Mittel für den erbrachten Mehrwert gilt. Man braucht nur folgende Sätze zu vergleichen:
- «Ich bin beeindruckt, mit welcher Präzision du diese steuerliche Analyse durchgeführt hast» oder
- «Ich bin beeindruckt, wie viel Steuern unser Kunde sparen wird».
Beim zweiten Satz kommt beim Mitarbeiter kein Gefühl der Freude auf; das ganze Lob, die ganze Wertschätzung konzentriert sich auf das Objekt, nicht auf das Subjekt.
Taten statt Worte
Anerkennung muss nicht in Worten ausgedrückt werden, sondern kann (und muss eigentlich) zuweilen durch Taten erfolgen. Vertrauen, loslassen, Raum schaffen: Dies sind konkrete Zeichen, dass man einem Mitarbeitenden seine Arbeit zutraut und seine Fähigkeiten anerkennt.