Disziplin macht glücklich
Text: Louis Grosjean, Partner altrimo
Wer hat sie nicht – die Sammlung der unerfüllten Wünsche? Neujahrsvorsätze, mehr Zeit mit der Familie zu verbringen, ein paar Kilos abzunehmen oder mehr Sport zu treiben. Oder einfach mal morgens einfacher aus dem Bett zu kommen. Wenn wir ehrlich sind, stellen wir fest: Meistens scheitern wir. Es geht vielleicht ein paar Wochen gut, aber länger halten unsere Vorsätze selten. Woran liegt es?
Die Ursachen mögen vielfältig sein, aber eine liegt bestimmt im Begriff «Disziplin». Dafür müssen wir uns mit der Handlungstheorie von Frankfurt beschäftigen.
Der Wunsch und der Wille
Der 2023 verstorbene amerikanische Philosoph, Harry Frankfurt, hat eine interessante Theorie zu diesem Thema aufgestellt. Er unterscheidet zwei Arten von Willen: zum einen den generellen Wunsch, etwas zu tun, und zum anderen den konkreten Willen, es hier und jetzt umzusetzen. Der Wunsch ist wie ein «Wille zweiten Grades», ein abstrakter Wille. Was bedeutet das?
Frankfurt nennt das Beispiel des Drogensüchtigen. Eigentlich möchte der Drogensüchtige von den Drogen loskommen und sauber werden. Das ist sein Wunsch. Aber im Alltag kommen immer wieder Situationen, in denen dieser Wunsch der Versuchung nicht widerstehen kann, Drogen einzunehmen. Er schafft es nicht, seinen Wunsch in einen Willen zu transformieren. Warum? Im konkreten Moment kostet es ihn psychologisch mehr, wenn er sich von den Drogen fernhält, als wenn er sie einnimmt.
Dieses Beispiel ist etwas extrem, aber hilfreich, um Frankfurts Konzept zu verstehen. Nehmen wir das Beispiel «Sport»: Es besteht bei vielen von uns der deklarierte Wunsch, mehr Sport zu treiben. Das ist unser Wille zweiten Grades. In konkreten Alltagssituationen finden wir jedoch ganz viele Ausreden, warum wir hier und jetzt doch keinen Sport treiben: Müdigkeit, Familienverpflichtungen, noch eine Kundenanfrage beantworten, Regenwetter – oder einfach mal das Bedürfnis nach Musse. Wie beim Drogensüchtigen ist unser Wille zu schwach, um unseren Wunsch zu verwirklichen.
Disziplin interpretiere ich vor diesem Hintergrund wie folgt. Disziplin ist nicht blinder Gehorsam gegenüber Dritten. Disziplin ist die Fähigkeit, seinen generellen Wunsch in einen konkreten Willen und Handlungen zu transformieren.
Wie erreichen wir Disziplin?
Die Welt ist voller Ratgeber, wie man seine Ziele erreicht (oder seine Wünsche verwirklicht). Auch bestehen gute Gründe, warum man nicht unbedingt mehr Disziplin in sein Leben bringen möchte – das ist vollkommen legitim.
Es macht uns allerdings kaum glücklich, wenn wir viele Wünsche haben, diese jedoch nie verwirklichen. Wir sollten etwas dagegen tun, um unseres eigenen Glücks Willen. Hier drängen sich ein paar Schlussfolgerungen auf.
Als Erstes ist die Fokussierung zu nennen. Wenn ich gleichzeitig wünsche, mehr Sport zu treiben, mehr Zeit mit der Familie zu verbringen und meinen Kundenumsatz zu steigern, dann werde ich ziemlich sicher bei allen Wünschen scheitern. Mein Tag hat schliesslich nur 24 Stunden. Damit der Wunsch zum Willen wird, ist deshalb die Fokussierung auf ganz wenige Wünsche notwendig.
Zweitens helfen Routinen. Es ist ein psychologischer Fakt, dass Routine die Hemmschwelle zum Anziehen der Sportschuhe senkt. Wenn die Routine sagt: Jogging dienstags um 5, dann wird der Geist «voreingestellt». Dazu kommt, dass diese Voreinstellung umso beständiger wird, je höher die Anzahl Wiederholungen ist und je weniger Ausnahmen die Regel erfährt.
Drittens – und das fehlt vielfach – sollten wir uns gründlich mit unseren Wünschen auseinandersetzen, bevor wir sie beschliessen. Habe ich diesen Wunsch wirklich? Ist er realistisch? Zu welchen Wünschen steht er im Widerspruch? Warum wünsche ich mir das? Wenn ich einen bewussten, rationalen Entscheidungsprozess beim Wunsch durchgehe, dann kann ich meinen Willen im Alltag auf diesen Entscheidungsprozess stützen. Ich muss dann nicht nochmals abwägen, ob ich die Turnschuhe anziehe oder nicht – ich habe es bewusst beschlossen und hinterfrage es daher nicht bei jeder Gelegenheit.
Disziplin – verstanden als die Fähigkeit, generelle Wünsche in einen konkreten Willen und Handlungen zu transformieren – macht uns tendenziell glücklicher.