Gast-Kommentar

Das 80/20 des Willens

Das 80/20 des Willens
Louis Grosjean
Lesezeit: 3 Minuten

Der Wille ist eine Zutat des Leaderships. Folgt man gewissen philosophischen Strömungen, macht uns unser Wille unglücklich. Doch als Leader wollen wir glücklich sein. Wie wir dieses Dilemma lösen können, skizziert Gastautor Louis Grosjean in unserer Serie «LEADER-Philosophie».

Text: Louis Grosjean, Partner altrimo

Die Füsse im Sand, starre ich auf den Horizont. Sanfte Meeresgeräusche spielen ihre endlose Schlaufe. Es ist warm. Die Uhr habe ich im Koffer gelassen, das Handy ebenso. Keine Termine: Es ist ein zeitloses Dasein. Ein bedürfnisloses Dasein. Ein willenloses Dasein. Pures Glück, nicht wahr?

Einige Philosophen – Epikureer, Stoiker, aber auch Schopenhauer im XIX. Jahrhundert – würden dem durchaus zustimmen. Sie erklären die Seelenruhe zum höchsten Gut auf Erden. Seelenruhig bin ich in diesem Moment am Strand zweifellos.

Die Tretmühle des Willens

Der Philosoph Arthur Schopenhauer, ein ziemlich negativer Zeitgenosse, beschrieb unser existenzielles Dilemma wie folgt. Wir werden von Bedürfnis zu Bedürfnis durchs Leben gehetzt. Kaum ist eines befriedigt, hüpfen wir zum nächsten. Wir wollen, weil wir dadurch leben. Der Wille, ein «blinder, zielloser Drang» beherrscht uns. Das macht uns zu unglücklichen Getriebenen.

Tatsächlich scheint manch berufliches Leben nach Schopenhauers Schema zu laufen. Die englische Sprache nennt dies «the rat race», Prof. Mathias Binswanger «Die Tretmühlen des Glücks». Das Phänomen ist reell.

In der Sprache des Leaders heisst das: kaum habe ich mit meinem Team ein Ziel erreicht, muss ich das nächste Ziel in Angriff nehmen. Und dann wieder das nächste. Ist einmal die neue Niederlassung im Ausland etabliert, lanciere ich ein neues Produkt. Ist dieses gut angekommen, starte ich eine Qualitätsoffensive. Oder ein Rebranding. Oder ein Organisationsentwicklungsprojekt.

Schopenhauer würde einen dergestalt agierenden Leader als unglücklich bezeichnen, weil dieser Leader immer wieder etwas Neues will. Dabei sei die Verneinung des Willens genau unser Glück. Wer nichts will, dem könne auch nichts geschehen. Denn die neue Niederlassung, das neue Produkt oder das Organisationsentwicklungsprojekt könnten scheitern. Dann wäre der Leader richtig frustriert.

Schopenhauer würde ihm raten, sich in Kontemplation, Meditation und Mitleid zu üben. Die Dinge geschehen lassen. Die Stoiker würden hinzufügen: die eigenen Tugenden pflegen und die eigenen Laster unterbinden. Sonst nichts. Ja nicht aufregen, wenn etwas schiefgeht. Die Seelenruhe ist das höchste Ziel.

Soweit die schöne Vorstellung. Aber so funktioniert Leadership nicht. Ohne Wille, ohne Narrativ, ohne Ziele wird kein Leader seine Organisation hinter sich scharen. Die Orientierungslosigkeit wird sich breit machen. Ohne gemeinsame Ziele driften die Energien auseinander. Ohne gemeinsamen Willen fällt die Organisation zusammen.

Ist also der Leader dazu verdammt, zu wollen und dabei unglücklich zu sein?

Oder sollen wir Schopenhauer, die Epikureer und die Stoiker für die Leadership-Philosophie als irrelevant erklären?

Auch interessant

Cogito
Gast-Kommentar

Cogito

Soziale Anerkennung
Gast-Kommentar

Soziale Anerkennung

Unternehmer gesucht: 60-100 Prozent
Gast-Kommentar

Unternehmer gesucht: 60-100 Prozent

Die Lösung: alternierende Willenszustände

Weder noch. Es kommt auf die Alternierung von Willen und Willenlosigkeit an. Ich will dies mit dem Bild der Seilschaft und des Bergführers erklären.

In einer Seilschaft muss der Bergführer seine Position situativ wählen. Manchmal ist er vorn, zieht an und zeigt den Weg. Manchmal ist er in der Mitte, motiviert die Gruppe und zieht mit. Manchmal ist er aber – zumindest wenn die Gruppe genug Erfahrung hat – auf der Terrasse der Berghütte und trinkt einen Kaffee. Dann muss die Seilschaft ohne ihn zurechtkommen. Deren Mitglieder müssen selbst wollen, entscheiden und ziehen. Diese Phase ist für sie wichtig. Sie müssen über sich hinauswachsen. Auch dem Bergführer tut diese Phase gut: er erholt sich vom ständigen Wollen, Entscheiden und Ziehen. Er begibt sich in einen willenlosen Zustand und erholt sich.

Die Sommerferien stehen an. Etwas Willenlosigkeit wird jedem Leader guttun. Und seiner Mannschaft auch. Tun Sie es Schopenhauer nach: Kontemplation, keine Ziele, Seelenruhe. 20 Prozent der Zeit im willenlosen Zustand sind OK. Dann sind Sie bereit für das Wollen, Entscheiden und Ziehen in den restlichen 80 Prozent Ihrer Zeit.

Auch interessant

Frustration und Tragödie
Gast-Kommentar

Frustration und Tragödie

Das abgeschlossene Werk
Gast-Kommentar

Das abgeschlossene Werk

Disziplin macht glücklich
Gast-Kommentar

Disziplin macht glücklich