Gast-Kommentar

«Die Lebenswirklichkeit macht den Unterschied»

«Die Lebenswirklichkeit macht den Unterschied»
Kurt Weigelt war von 2007 bis 2018 Direktor der IHK St.Gallen-Appenzell
Lesezeit: 6 Minuten

In der Schweiz werden alle grösseren Städte von einer linken Mehrheit regiert. Dies aus einem einfachen Grund: Hier befinden sich die öffentlichen Verwaltungen, die Spitäler und die höheren Bildungseinrichtungen. Die Zahl rotgrüner Wähler steige mit der Zahl der Staatsangestellten, kommentiert Kurt Weigelt in seiner Kolmune «Dies gelesen: Das gedacht:».

Text: Kurt Weigelt

Dies gelesen: «Die Bundesstadt ist zunehmend zu einer rot-grünen Parallelwelt geworden, in der man unter seinesgleichen lebt – ein staatlich umsorgtes Biotop, wo man nicht viel darauf gibt, wie das Geld erwirtschaftet wird.» (Katharina Fontana, NZZ, 25.11.2024)

Das gedacht: Amerika hat gewählt. Viele politische Beobachter reiben sich die Augen. Aus dem erwarteten und von ihnen erhofften Erfolg von Kamala Harris ist nichts geworden. Stattdessen siegte Donald Trump auf der ganzen Linie. Er holte die Mehrheit der Stimmen der Wahlleute und des Volkes. Die Republikaner gewannen den Senat und das Repräsentantenhaus. Eindeutiger geht es nicht.

Diese klaren Mehrheitsverhältnisse ändern jedoch nichts an der Tatsache, dass die Vereinigten Staaten ein politisch gespaltenes Land sind. 51% der Wahlberechtigten wählten Trump, 49% Harris. Ausgeprägt erkennt man diese Spaltung, wenn man die Resultate auf County-Ebene betrachtet. Das ländliche Amerika stimmte mehrheitlich für Trump. In den grossen Städten gewann Harris.

Besonders deutlich zeigte sich dies im Bundesdistrikt Washington D.C., der Hauptstadt der USA. Hier siegte die Demokratin mit 92.5% der Stimmen. Dies aus einem einfachen Grund. Gegen 30 Prozent der Beschäftigten in Washington D.C. arbeiten für die Bundesbehörden und die lokale Verwaltung. Dazu kommen alle, die als Lebenspartner und Familienmitglieder von Staatsangestellten ebenfalls am Tropf staatlicher Lohnzahlungen hängen. Sie alle vertreten die Interessen der Verwaltung und wünschen sich einen starken Staat.

Staat grösster Arbeitgeber

Vergleichbares gilt für die Schweiz. Der Staat ist der grösste Arbeitgeber. Die öffentliche Verwaltung beschäftigt zu Vollzeitäquivalenten 400’000 Personen. Weitere 200’000 Personen arbeiten in öffentlichen Unternehmen und Instituten des öffentlichen Rechts wie Kantonalbanken, Kantonsspitälern oder der SBB. Dabei liegt es in der Natur der Sache, dass sich diese Arbeitsplätze auf die grösseren Städte konzentrieren. Hier befinden sich die öffentlichen Verwaltungen, die Spitäler und die höheren Bildungseinrichtungen. Nicht anders als in Washington D.C. widerspiegelt sich diese Konzentration von Staatsangestellten im Wahlverhalten der Stadtbevölkerung. Die Zahl rotgrüner Wähler steigt steigt mit der Zahl der Staatsangestellten.

Besonders deutlich gilt dies für die Stadt Bern, in der zusätzlich zur Gemeinde- und Kantonsverwaltung viele Angestellte des Bundes wohnen. Bern ist heute die am weitesten links stehende Stadt der Schweiz. Das einst so bieder-brave Bern, so Katharina Fontana in der NZZ, ist heute eine radikal linke Stadt, in der man den Kapitalismus abschaffen und die Bevölkerung mit einem bedingungslosen Grundeinkommen beglücken will – und wo die Beamten bereits mit 63 Jahren in Pension geschickt werden. (…) Die Wählerschaft hat es sich mit gutbezahlten Stellen in der Verwaltung, beim staatsnahen Speckgürtel, bei den vielen rund ums Bundeshaus angesiedelten Nichtregierungsorganisationen und anderen subventionierten Lobbys so wunderbar bequem eingerichtet.

In der Schweiz werden alle grösseren Städte von einer linken Mehrheit regiert. Vielfach wird diese Tatsache mit dem Unterschied zwischen einer gebildeten urbanen Elite und dem einfach gestrickten Landvolk erklärt. Überheblicher geht es nicht. Die entscheidende Differenz liegt nicht in Bildungsabschlüssen, sondern in der unterschiedlichen Lebenswirklichkeit.

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Public-Private-Pay-Gap

Die Unterschiede in der Lebenswirklichkeit der Angestellten des öffentlichen und des privaten Sektors zeigen sich zuerst einmal in den Anstellungsbedingungen. Im Zeitraum von 2020 bis 2022 betrug das durchschnittliche Bruttoerwerbseinkommen für eine Vollzeitstelle in der Bundesverwaltung 118’457 Franken. In der Privatwirtschaft waren es 92’723 Franken. Diese Differenz lässt sich teilweise damit erklären, dass in der Bundesverwaltung rund die Hälfte der Mitarbeitenden über einen Hochschulabschluss verfügt. Mit der Staatsebene steigt die Akademisierung.

Der Public-Private-Pay-Gap bestätigt sich aber auch, wenn man Personen mit dem gleichen Alter, Geschlecht, Ausbildung und weiteren identischen Merkmalen betrachtet. Im Mittel verdient ein Bundesangestellter rund 14’000 Franken oder knapp 12 Prozent mehr als sein «statistischer Zwilling» in der Privatwirtschaft. In den Kantonen und den Gemeinden ist der Unterschied mit 5.4, respektive 4.5 Prozent deutlich kleiner.

Im Vergleich zur Privatwirtschaft geniessen die Angestellten der Bundesverwaltung weitere Privilegien wie grosszügige Pensionskassenregelungen und einen besseren Kündigungsschutz. Ein Ortszuschlag gleicht die unterschiedlichen Lebenshaltungskosten am jeweiligen Wohn- bzw. Arbeitsort aus. Weiter gibt es Funktionszulagen, Arbeitsmarktzulagen und Sonderzulagen.

Grosszügig auch die Kantone und Gemeinden. In der Stadt Zürich übernimmt die Arbeitgeberin ebenfalls den grösseren Teil der Pensionskassenbeiträge. Zusätzlich zur bereits grosszügigen Ferienregelung können die Mitarbeitenden bis zu 10 unbezahlte Ferientage beziehen. Und selbstverständlich gehen auch der Mutterschafts- und der Vaterschaftsurlaub über den gesetzlichen Anspruch hinaus. Als Pilotprojekt möchte man nun auch noch einen Menstruationsurlaub von bis zu 5 Tagen je Monat einführen. Es gibt Lunch-Checks, einen ÖV-Beitrag, eine Spesenentschädigung für das persönliche Smartphone und Hypotheken zu Sonderkonditionen.

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Über den Wolken

Noch entscheidender ist, dass die Beschäftigten des öffentlichen Sektors losgelöst von den Niederungen des Alltags der arbeitenden Bevölkerung funktionieren. Sie schweben über den Wolken, funktionieren unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung und unabhängig von den Finanzperspektiven des Bundes. Innerhalb der Gehaltsstufe gibt es in der Bundesverwaltung eine automatische jährliche Lohnerhöhung. Zumindest für die bescheidenen 97% (!) der Beschäftigten, deren Leistungen von den Vorgesetzten als «sehr gut» bis «gut» beurteilt werden. Und selbstverständlich erhalten alle Bundesangestellte unabhängig von ihrer Leistung einen Teuerungsausgleich.

Übertroffen werden diese Automatismen in ihrer Wirkung von der Entkoppelung von Ursache und Wirkung. Die Folgen einer fragwürdigen Energiepolitik treffen nicht die Angestellten der Verwaltung, sondern die arbeitende Bevölkerung in der Industrie und in der Gastronomie. Auf der Strecke bleiben die Arbeiter von Swiss Steel und nicht die Entscheidungsträger des Bundesamtes für Energie. Den Preis für den Kampf gegen autofahrende Kunden bezahlen der Einzelhandel und seine Beschäftigten und nicht die Mitarbeiter der Stadtverwaltung. Die Bauverwaltung eines Kantons kann grosse Bauprojekte in den Sand setzen. Präsentiert wird die Rechnung den Steuerzahlern. Für die «Verantwortlichen» in Regierung und Verwaltung hat dies alles keine Konsequenzen.

Institutionelle Schranken

Nicht entscheidend sind in diesem Zusammenhang individuelle Aspekte. Es versteht sich von selbst, dass unzählige Verwaltungsangestellte einen tollen Job machen. Die Herausforderungen liegen auf der Ebene des politischen Systems. Vergleichbar mit Wählern und Politikern funktionieren auch Staatsangestellte als rationale, ihre Interessen verfolgende Individuen. Sie nutzen den ihnen vorgegebenen Handlungsspielraum zu ihrem eigenen Vorteil. Dies ist weder verboten noch zu verbieten.

Der gesellschaftliche Ausgleich fällt allerdings dann aus dem Gleichgewicht, wenn die Beschäftigten des öffentlichen Sektors gemeinsam mit ihrem Umfeld zahlenmässig ein Ausmass erreichen, mit dem sie in den Städten jede Wahl und in den Gemeinden, Kantonen und auf Bundesebene jede Abstimmung zu ihren Gunsten entscheiden können. Auch in diesem Zusammenhang macht die Dosis das Gift. Nicht anders als in der Vergangenheit braucht es daher institutionelle Schranken, die diesem Ungleichgewicht Grenzen setzen.

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Notwendiges Korrektiv

Nach dem Sonderbundskrieg lag die Herausforderung im Ausgleich zwischen den liberalen, mehrheitlich reformierten Kantonen und den ländlichen, katholischen Orten. Dieser Ausgleich gelang bei der Gründung der modernen Schweiz im Jahre 1848 mit einem echten Zweikammersystem und dem Ständemehr bei Volksabstimmungen mit Verfassungsrang.

Heute geht es nicht mehr um Fragen der Religion, sondern um ein notwendiges Korrektiv gegenüber der wachsenden Übermacht des politisch-administrativen Komplexes in den grösseren Städten. Wenig überraschend sind es denn auch diese Kreise, die im Zusammenhang mit Volksabstimmungen plötzlich nichts mehr von Minderheitenschutz wissen wollen. So heisst es etwa beim ehemaligen SP-Ständerat Paul Rechsteiner mit Blick auf eine Aufwertung des Ständemehrs: Fort mit Schaden!

Ein Glück, dass unsere Vorfahren weiser und vor allem weniger opportunistisch handelten. Eine funktionierende Demokratie setzt nicht auf die «Tyrannei der Mehrheit» (Alexis de Tocqueville), sondern lebt vom Ausgleich unterschiedlicher Interessen und gesellschaftlicher Gruppierungen. Dies gilt auch für das Spannungsfeld von Stadt und Land. Der Ständerat und das Ständemehr sorgen für den notwendigen Ausgleich zugunsten der ländlichen Regionen und kleinen Kantonen. Sie sind aktueller denn je. Wir tun gut daran, unsere traditionellen Institutionen Sorge zu tragen.

Mehr von Kurt Weigelt gibts auf seinem Blog «Dies gelesen: Das gedacht:»: kurtweigelt.ch

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