Diabetes: Licht im Therapie-Dschungel

Wir schreiben den Sommer 1921 – an der Universität von Toronto forschen zwei junge Wissenschaftler seit Jahren am Schreckensgespenst Diabetes. Eine Krankheit, deren Diagnose praktisch immer das Todesurteil bedeutet. Am 31. Juli desselben Jahres gelingt den erwähnten Herren – Frederick Banting und seinem Assistenten Charles Best – Historisches: Aus der präparierten Bauchspeicheldrüse eines Hundes gewinnen sie ein insulinhaltiges Extrakt. Erstmals kann das wichtigste Stoffwechselhormon aus einem Lebewesen gewonnen werden – ein Durchbruch, von dem heute weltweit rund eine halbe Milliarde (!) Diabetes-Patienten profitieren. Zwei Jahre später wird für diese bahnbrechende Entdeckung der Nobelpreis vergeben.
Faszination für neue Technologien
Zurück in der Gegenwart – angekommen im Wilden Osten: Wir besuchen das eSwiss Medical & Surgical Center in der St.Galler Klinik Stephanshorn. Hier treffen wir Dr. med. Christopher Strey (Bild), Facharzt Endokrinologie/Diabetologie und Innere Medizin. Der gebürtige Bayer arbeitet seit acht Jahren für die Hirslanden-Gruppe. «Vor 24 Jahren durfte ich mit einem inspirierenden Diabetologen in meiner Ausbildung zusammenarbeiten. Ab diesem Zeitpunkt habe ich eigentlich nur noch auf diesem Fachgebiet gearbeitet», so Strey. «Neue Technologien faszinierten mich schon immer. Und in der Diabetologie gab es über die Jahrzehnte eine wahre Explosion an technologischen Behandlungsmöglichkeiten».
So revolutionär die Behandlungsmethoden sind, so altmodisch ist der strapazierte Begriff der Volkskrankheit: «Diabetes ist keine Krankheit, sondern ein körperlicher Zustand. Diesen muss man so organisieren, damit die Krankheit verhindert werden kann», ergänzt das ehemalige Mitglied der Deutschen Skibob Nationalmannschaft.
Den Schrecken verloren
Was vor 100 Jahren eine medizinische Sensation war, ist mittlerweile Routine. Gemäss Bundesamt für Statistik starben im Jahre 2018 rund 1150 Menschen an Diabetes. Vor 50 Jahren war die prozentuale Sterblichkeit noch doppelt so hoch. «Die Todesrate ist niedrig, das ist in der Tat so. Doch sind wir ehrlich: Der Alltag mit Diabetes bleibt anstrengend», so Christopher Strey. Die Mühen ergeben sich massgeblich durch den alltäglichen Aufwand, der durch Diabetes entsteht: Die permanenten Blutzucker-Kontrollen und die richtige Insulin-Dosierung sind omnipräsent.
Erfreulicherweise werden die Therapien schrittweise autonomer und sollen das Leben für Diabetes-Betroffene einfacher und «smart» machen. Smart darum, weil sensorunterstützte Insulinpumpen einen Automodus mit adaptiver Insulinabgabe besitzen. Das heisst, sie arbeiten eigenständig, angepasst an den Glucosewert. «Es gibt einen rasanten Technologieschub mit neuen Anwendungen», erklärt Strey. «Und obwohl mich diese begeistern: Es ist für mich als Profi praktisch unmöglich, den Überblick zu behalten. Wie fühlt sich da wohl der Laie?»
Deshalb hat Christopher Strey den «DTE 2021» ins Leben gerufen: Der Event soll die medizinischen Entwicklungen reflektieren und als Informations- und Aufklärungsplattform dienen. Betroffene, Angehörige sowie Gesundheitsdienstleister bekommen am 11. September 2021 in St.Gallen einen umfassenden Überblick über die derzeitigen Diabetes-Technologien.
Hand in Hand für Patienten
In den lichtdurchfluteten Räumen des eSwiss Medical & Surgical Centers heisst Stillstand Rückschritt. Forschung, Entwicklung, Anwendung und das allgemeine Patientenwohl sind selbstverständlich für das 30-köpfige Team. «Ich bin glücklich, wenn ich sehe, wie die Diabeteseinstellung bei sehr vielen unserer Patienten dank effektiveren Behandlungsmöglichkeiten immer besser wird».
Noch viel mehr Betroffene müssten allerdings wissen, was heute alles möglich ist – und noch möglich sein könnte. Christopher Streys Wunsch für die Zukunft: «Eines Tages müsste es ein Insulin geben, das nur dann wirkt, wenn der Blutzucker zu hoch ist. Solche Insuline wären dann mit Proteinen verbunden, die auf den Blutzuckerspiegel reagieren, wodurch die Insulin-Freigabe reguliert wird.»
Die Wissenschaft forsche bereits an einer solchen Anwendung, so Strey. Allerdings dauert es nach Einschätzung des Spezialisten noch Jahre, bis diese Technologie Marktreife erlangt. «Ein solcher Durchbruch hätte erneut Nobelpreis-Potenzial», ergänzt er lachend. Wild ist der Osten, aber eben auch sympathisch innovativ.
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Wie erkennt man, ob jemand an einer Unterzuckerung leidet und wie kann man im Notfall helfen?
«Eine Unterzuckerung ist für einen Menschen ein extremer Stress. Die Anzeichen ähneln daher einer starken Stressreaktion (Erregung, Unwohlsein, Zittern, Schwitzen). Das Gehirn braucht Zucker, um zu funktionieren», sagt Christopher Strey. «Wenn der Blutzucker zu tief sinkt, dann setzt die Gehirnfunktion aus und es kann zu einem Ohnmachtsanfall kommen. Bei Symptomen einer Unterzuckerung sollte der Blutzucker gemessen und schnell wirksame Kohlenhydrate aufgenommen werden (z. B. 3-4 Plättchen Traubenzucker, 1 dl Süssgetränk oder Orangensaft).»
Wenn ein Patient mit Unterzuckerung nicht mehr in der Lage ist, etwas zu essen (zum Beispiel bei Ohnmacht), dann kann ein gegenregulierendes Hormon (Glucagon) gespritzt werden, das den Blutzucker wieder ansteigen lässt. Dafür gibt es Notfallkits. Seit Kurzem gibt es Glucagon auch als Nasenspray.