Gast-Kommentar

Überwachsene Gärten

Überwachsene Gärten
Louis Grosjean
Lesezeit: 3 Minuten

Darf man Unerfahrenheit auch als Vorteil sehen? Ja, meint Louis Grosjean in unserer Serie «LEADER-Philosophie». Zuviel Vergangenheit hemme die Zukunft, habe damals schon Nietzsche in Bezug auf Zivilisationen gemeint. Seine Gedanken könne man auf Unternehmen übertragen.

Text: Louis Grosjean, Partner altrimo

Unser Gedächtnis hilft uns, relevante Informationen zum richtigen Zeitpunkt abzurufen: eine hochgradig komplexe und nützliche Datenbank.

Das Gedächtnis hilft uns auch im Geschäftsleben, nämlich bei der Entscheidungsfindung. Es füttert unser wohlbekanntes «Bauchgefühl» durch Erfahrungen aus der Vergangenheit. Negative Erfahrungen führen uns dazu, in analogen Situationen anders als früher zu entscheiden. Positive Erfahrungen bestätigen frühere Entscheide, wodurch wir diese zu wiederholen neigen.

Mit der Zeit gleicht unser Gedächtnis einem verwilderten Garten, in welchem lauter Warnsignale, Fahrverbote und Wegweiser wachsen.

In einer Organisation interagiert eine Vielzahl von Individuen. Deren Gedächtnisse kombinieren sich zu einer Historie dieser Organisation: Sie bilden eine kulturelle «Legacy». Diese ist für das Gesamtunternehmen bedeutungsvoll, besonders in der Führungsetage. Denn dort erwarten wir überdurchschnittlich viel Erfahrung – das heisst, eine Kombination von überwachsenen «Gärten» – und, definitionsgemäss, eine Vielzahl von Entscheidungen.

Die Frage lautet: Wie sollen Leader diese «Gärten» pflegen?

Jede Handlung erfordert Vergessenheit

Instinktiv würde jeder von uns den hohen Wert eines möglichst umfassenden Gedächtnisses bei Individuen bestätigen. Auch eine möglichst breit abgestützte Erfahrung an der Unternehmensspitze erscheint uns erstrebenswert.

Ist das so? Zumindest ein Philosoph sieht die Schatzkiste vergangener Erfahrungen kritisch und differenziert: Friedrich Nietzsche. In seiner zweiten «unzeitgemässen Betrachtung» aus dem Jahre 1874 äussert er sich wie folgt.

Einerseits sei Historie positiv. Sie ermutige uns zu grossen Taten durch Vorbilder aus der Vergangenheit. Weiter diene sie der Zurechtfindung in einer zeitlichen Kontinuität, vereinfacht ausgedrückt: Heute sei das Ergebnis von gestern. Dies helfe uns, unser Tun auf der Zeitachse einzubetten. Schliesslich sei Historie eine kritische Stimme, die schädliche Inhalte aus der Vergangenheit beseitige (man denke an die geläufige Erscheinung, dass negative Aspekte vergangener Erfahrungen in späteren Erzählungen verschwiegen werden, weil man sie schlicht und einfach vergessen hat).

Andererseits sei Historie gemäss Nietzsche eine Bedrohung. Ich fasse seine Gedanken wie folgt zusammen: Wer ständig in der Historie denkt und lebt, dreht sich im Kreis. Diese Person erstarrt allmählich und wagt nichts mehr neues. Sie handelt nicht mehr: Sie verwaltet. Nietzsche drückt es sehr pointiert aus: ohne Vergessen gebe es kein Leben. Jede Handlung erfordere ein gewisses Mass an Vergessen. Zuviel Erinnerung, zuviel Historie schade dem Lebewesen und zerstöre es letztendlich: ob Mensch, Volk oder Zivilisation.

Nietzsche befürwortet damit einen massvollen (und eben nicht blind verehrenden) Umgang mit der Historie. Keine Tabula rasa, aber auch kein Kulturkult. Das Vergessen solle uns helfen, zwischen wertvoller und schädlicher Erinnerung zu unterscheiden sowie letztere zu beseitigen.

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Überwachsene Gärten lichten

Zurück zu den überwachsenen Gärten an der Unternehmensspitze. Wir können einige Gedanken von Nietzsche im unternehmerischen Kontext übernehmen.

  1. Zu viel Erfahrung ist schädlich und hemmend. Graue Eminenzen braucht es, aber in ausgewogenem Gleichgewicht zu jüngeren Semestern. Kein Jugendkult, aber auch keine Übermacht der Greise.
  2. Spezialfall Familienunternehmen: Allmächtige Patriarchen, die mit weit über 70 das Unternehmen noch im Alleingang führen, sollten schnellstmöglich Macht und Verantwortung an die jüngere Generation weitergeben.
  3. Die Kunst der Geschäftsmodellinnovation besteht darin, Disruptives zu wagen, ohne das grosse Ganze zu gefährden. Konkret und im Kontext dieses Artikels heisst das: Junge Talente mit klar bemessenen Mitteln ausstatten und einfach mal machen lassen. Handlung erfordert auch mal die Abwesenheit von Erfahrung.

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