Gast-Kommentar

Lob für den Zorn

Lob für den Zorn
Louis Grosjean
Lesezeit: 3 Minuten

Zorn gilt heutzutage als verwerfliche Gemütserscheinung. Gutmenschen sind nie zornig. Gleichmut und friedliche Nächstenliebe sind das Mass aller Dinge. Zu Unrecht, findet Louis Grosjean in unserer Serie «LEADER-Philosophie». Denn Zorn sei für Leader durchaus nützlich.

Text: Louis Grosjean, Partner altrimo

Erinnern Sie sich an das letzte Mal, als Sie zornig waren. Kein schönes Gefühl, oder? Vielleicht haben Sie sogar Dinge gesagt oder getan, die Sie heute bereuen. Ein bisschen Scham ist sicher auch dabei.

Das hat gute Gründe. Die Stoiker mit Seneca, die christliche Moral mit Jesus Christus (trotz Tempel-Affäre …) und die heutigen Humanisten predigen uns: Haltet euren Affekt im Zaum. Unterbindet ihn. Zorn ist verwerflich, Zorn ist barbarisch.

In diesem Artikel will ich die Gegenthese verteidigen: Zorn ist gut und nützlich, gerade für Leader.

Am Anfang war der Zorn

Der zeitgenössische Philosoph, Peter Sloterdijk, liefert amüsanten Stoff für diese Gegenthese. Er erinnert uns in seinem Werk «Zorn und Zeit» daran: Europas erstes Wort war Zorn. Das erste literarische Werk Europas war nämlich die Ilias von Homer, und sie beginnt mit dem Zorn des Achilles gegen Agamemnon. Dieser Zorn wendet sich später, nach dem Tod von Achilles Freund Patrokles, gegen die Stadt Troja; diese fällt bald darauf. Zorn hat damals schon Geschichte geschrieben.

Nach Sloterdijk entspringt Zorn dem Streben nach Erfolg, Ansehen, Selbstachtung und dessen Rückschlägen. Streben und Rückschläge: Zorn ist das Ergebnis, die konfrontative Kombination von eigener Energie und widrigen Umständen.

Energieschübe nutzen

Zunächst stelle ich fest: Diese zwei Komponenten des Zornes werden je für sich gewöhnlich als positive Leadership-Zutaten gewertet. Energie braucht der Leader, ansonsten er zum Verwalter mutiert. Rückschläge sind die Schmiede des Erfolgs: Aus ihnen lernt man, an ihnen stärkt man sich. Die beiden Teile des Zornes, nämlich Streben und Rückschläge, sind also für den Leader dienlich. Warum nicht deren Kombination?

Überlegen Sie sich, was Zorn mit Ihnen in der Vergangenheit gemacht hat. Hat er Ihnen den Schlaf geraubt, weil Sie die erfahrene Ungerechtigkeit emotional verdauen mussten? Hat er Sie dazu bewegt, im Wald spazieren zu gehen, um einen klaren Kopf zurückzugewinnen? Hat er Sie dazu gebracht, einen bislang latenten Konflikt endlich anzugehen? Unangenehm, aber nötig, oder?

Zorn bringt Bewegung ins Geschehen. Er zwingt uns zur Auseinandersetzung mit unerwünschten Situationen, mit Ungerechtigkeit. Er gibt uns den energetischen Kick, die unerwünschte Realität zu verändern.

Gewiss, Zorn kann zu unkontrollierten Handlungen führen. Im zornigen Zustand begeht man Fehler – vielleicht sogar unwiderrufliche Fehler. Zorn ist wie Dynamit: nützlich bei kontrollierter Nutzung, ansonsten schädlich. Wie macht man sich also Zorn zunutze?

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Ein Begleiter, kein Führer

Aristoteles und Seneca zitierend, zeigt uns Sloterdijk eine mögliche Haltung: «Zorn entzündet den Mut. Man darf ihn nicht zum Führer, sondern nur zum Mitstreiter nehmen.» Man darf sehr wohl Energie aus Zorn schöpfen, sich jedoch letztlich nicht von ihm leiten lassen.

Auf dieser Haltung aufbauend, komme ich zu folgenden Schlussfolgerungen:

Zorn ist zu akzeptieren und nicht zurückzudrängen. Wenn ich zornig werde, sagt mir mein Instinkt, dass etwas zu verändern ist.

Im zornigen Zustand muss ich die Energie zunächst für mich nutzen: Denken, sich bewegen, schreiben.

Hingegen darf ich diese Energie nicht an Anderen verschwenden: Übereilte Sprüche und Handlungen im Affekt bringen nichts.

Erst, wenn die Saat des Zornes durch den Baum der Reflexion gute Früchte hervorgebracht hat, pflücke ich sie und bringe sie auf den Markt menschlicher Interaktionen.

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