Gast-Kommentar

Geschichten erzählen

Geschichten erzählen
Louis Grosjean
Lesezeit: 3 Minuten

Wir mögen Geschichten. Gute-Nacht-Geschichten für Kleinkinder, dramatische Erlebnisse oder lustige Erzählungen: Geschichten bewegen unsere Seele. Und sie sind für Leader äusserst nützlich. Warum?, fragt sich Louis Grosjean in unserer Serie «LEADER-Philosophie».

Text: Louis Grosjean, Partner altrimo

Kürzlich, am OFFA-Gewerbetag, hörte ich einen Vortrag über mögliche Anwendungen von Chat GPT im Alltag. Eine davon verblüffte mich: Die Mutter trug vor, wie sie Chat GPT Gute-Nacht-Geschichten für ihren Sohn erfinden liess.

Instinktiv reagierten mehrere Zuhörer in der Pause ablehnend: Das sei eine Einmischung der künstlichen Intelligenz in eine intime Familiensphäre. Man delegiere Zärtlichkeit an die Technik. Das gehe nicht.

Ich habe darüber nachgedacht und nachgelesen. Warum mögen wir Geschichten? Was ist so toll daran? Was können wir als Leader davon lernen?

Geschichten formen die Persönlichkeit

Man kann Geschichten über andere oder über sich erzählen. Man kann sie mündlich oder schriftlich vortragen. Gewisse Erzähler sind mit Talent gesegnet, andere weniger.

Spannendes dazu fand ich in der Lektüre von Peter Bieris Schrift «Wie wollen wir Leben?». Peter Bieri war ein Schweizer Philosoph und ist 2023 verstorben. Einige Zitate aus diesem kleinen Werk von Bieri zum Thema «Geschichten» möchte ich hier wiedergeben.

«Ein literarischer Text ist eine kunstvolle sprachliche Vergegenwärtigung von Erfahrung.» Es geht dabei nicht nur um reelle Fakten, im Gegenteil: «Wir spüren, dass wir über fiktive Geschichten mehr über die Innenwelt von Menschen erfahren als durch Berichte über wirkliche Begebenheiten.»

Warum ist das so? «Das Schreiben einer erfundenen Geschichte schafft Laborbedingungen.» Diese Laborbedingungen sind für die Festigung unserer Persönlichkeit wichtig: «Fiktive Figuren laden zu Identifikation und Abgrenzung ein, und dadurch werden sie zu einem Medium der Selbsterkenntnis.» Nicht nur die Figuren, auch das Thema spielt eine zentrale Rolle: «Es bedarf einer enormen seelischen Energie, um eine Geschichte zu schreiben, und man kann gar nicht anfangen, wenn man nicht spürt, dass der Stoff einen in einer Tiefe berührt und beschäftigt, aus der heraus die notwendige Energie fliessen wird.»

Einfacher gesagt: Ohne Betroffenheit kein gutes Thema für eine Geschichte.

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Führung, Selbstführung und Selbsterkenntnis

Peter Bieris These ist: Erkenne dich selbst durch das Schreiben. Mir reicht die Variante: Erkenne dich selbst durch das Erzählen. Als Leader erlebt man vieles. Die Erfahrung summiert sich rapide. Diese zu verarbeiten, ist Voraussetzung der Selbsterkenntnis. Ein gutes Mittel der Verarbeitung ist Peter Bieris Empfehlung. Man nehme Personen und Thema der konkret erlebten Situation. Man erfinde und dramatisiere das Ganze, um die Konturen zu schärfen (oder, was manchmal notwendig ist, um die Geschichte zu anonymisieren). Dann erzählt man diese Geschichte im kleinen Kreis, und beobachtet: Die Reaktion Anderer wie auch das eigene Gefühl beim Erzählen sind spannende Mittel der Selbstreflektion.

Aus dieser Selbstreflektion folgt die ständige Bildung und Festigung unserer Persönlichkeit. Dadurch wird man als Leader greifbarer: Die Führungskonsistenz nimmt zu. Geschichten sind also ein Mittel zur stetigen Verbesserung der eigenen Führungstätigkeit. Das finde ich einen recht spannenden Gedanken!

Zurück zu unserem Anfangsbeispiel. Was soll ich von diesen Chat-GPT-Gute-Nacht-Geschichten halten? Die Antwort ist nach Peter Bieris Lektüre: völlig ok für den Zuhörer, aber eine verpasste Chance für den Erzähler. Finden wir die Kraft, unsere Leader-Erfahrung – nach Bieri – «kunstvoll sprachlich zu vergegenwärtigen»!

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