Lange Wellen
Text: Alessandro Sgro, Chief Investment Officer Cronberg AG
Nichts dominierte in den vergangenen Monaten die positive Berichterstattung so stark wie künstliche Intelligenz (KI). Dies spiegelte sich auch in den Entwicklungen am Aktienmarkt wider. Unternehmen wie Nvidia, Super Micro Computers oder Broadcom haben ihren Marktwert zeitweise mehr als verdoppelt. Der Grund für diese Euphorie liegt mit dem Launch von ChatGPT bereits 20 Monate zurück. Die breite Öffentlichkeit erkannte durch Sprachassistenten erstmals die Möglichkeiten von KI. Besonders die Halbleiterindustrie profitierte von diesem Boom, ebenso Hardware- und Softwareentwickler.
Dabei ist die Geburtsstunde der KI mit der Dartmouth Conference 1956 schon lange her. Doch erst heute ermöglichen riesige Datenmengen und entsprechende Rechnerkapazitäten den Durchbruch. Zuletzt geriet der Aufwärtstrend ins Stocken und die Technologiewerte wurden volatiler. Kurseinbrüche von 10 bis 20% sind keine Seltenheit. Droht nun eine Blase zu platzen oder schaffen es Unternehmen, die hohen Erwartungen zu erfüllen?
Eine Spekulationsblase entsteht, wenn Investoren mehr für Vermögenswerte zahlen, als deren fundamentaler Wert nahelegt. Anzeichen sind stark steigende Kurse bei stagnierenden Gewinnen – ein Szenario, das teilweise auf die aktuelle Lage zutrifft. Nvidia, die Vorzeigefirma der KI-Branche, wurde dieses Jahr zur meistgehandelten Aktie und löste Tesla ab. Fundamentaldaten untermauern jedoch die hohen Kursentwicklungen nicht eindeutig, sondern spiegeln eher die sehr hohen Erwartungen der Anleger wider.
Dass der US-Aktienmarkt schneller wächst als die reale Wertschöpfung, ist nicht neu. Seit 1952 wuchs der Markt im Schnitt um 3,5 Prozentpunkte schneller. Im letzten Jahr zeigte sich dies besonders deutlich: Während die Umsätze der S&P-500-Unternehmen nur um 1,6% stiegen, legte der Index um 22,5% zu – insbesondere bei Technologieunternehmen ist die Differenz auszumachen.
Der sechste Zyklus
Ob Unternehmen die neuen Technologien langfristig wertschöpfend integrieren können, bleibt abzuwarten. Klar ist: Markante strukturelle Entwicklungen, sogenannte Basisinnovationen, waren in der Vergangenheit entscheidend für Produktivitäts- und Wohlstandsschübe. Beispiele sind die Dampfmaschine, Eisenbahn, Elektrifizierung, Petrochemie und Informationstechnologie.
Der russische Ökonom Nikolai Kondratieff unterschied in seinem Aufsatz «Die langen Wellen der Konjunktur» zwischen mittelfristigen Zyklen und langen Konjunkturwellen, die 40 bis 60 Jahre dauern können. Letztere werden durch bedeutende technologische Innovationen ausgelöst. Stehen wir mit KI am Beginn eines sechsten Kondratieff-Zyklus?
Eine solche Innovation muss disruptiv, branchenübergreifend und gesellschaftlich breit akzeptiert sein – Kriterien, die KI mehrheitlich erfüllt. Sie verändert Geschäftsmodelle, steigert Effizienz, senkt Kosten und ermöglicht innovative Produkte. Damit könnte KI das wirtschaftliche Wachstum in den kommenden Jahren deutlich ankurbeln und auch die Aktienmärkte positiv beeinflussen. Basisinnovationen haben in der Vergangenheit nicht nur Wirtschaftswachstum, sondern auch Börsenbooms ausgelöst, da Unternehmen, die früh auf strukturelle Veränderungen reagierten, besonders profitierten.
Allerdings gelingt der Wandel nicht jedem. Ein Blick auf die Dotcom-Blase um die Jahrtausendwende verdeutlicht dies: Cisco, damals führend in Internet-Technologien, erreichte die höchste Marktkapitalisierung, konnte diese Position jedoch nicht halten und erlitt einen massiven Kurseinbruch. Amazon hingegen entkam der Blase und entwickelte sich durch ein vorausschauendes Geschäftsmodell vom Online-Buchhändler zu einem der wertvollsten Hightech-Unternehmen.
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Selektiv attraktive Chancen nutzen
Anleger profitieren von Innovationsschüben sowohl als Konsumenten innovativer Produkte als auch durch eine positive Anlageperformance. Seit dem Launch von ChatGPT liefern vor allem Technologieunternehmen eine überdurchschnittliche Performance. Doch eine ausgeprägte Euphorie birgt Risiken: Nicht alle Unternehmen werden erfolgreich sein, weshalb selektives Vorgehen und fundierte Analyse der einzelnen Unternehmen entscheidend sind.
Viele Unternehmen investieren aktuell hohe Summen in KI, ohne Gewissheit über deren langfristige Profitabilität zu haben. Wie schon während der Dotcom-Blase wird sich langfristig die Spreu vom Weizen trennen. Ein positives Beispiel liefert Nvidia: Das Unternehmen, heute der wertvollste Chiphersteller der Welt, hat Apple und Microsoft in der Marktbewertung überholt. Dies zeigt, wie die frühzeitige Integration von strukturellen Veränderungen – wie etwa der Einsatz von KI – nachhaltige Wettbewerbsvorteile schaffen kann. Auch Microsoft erkannte früh das Potenzial von KI und integrierte sie in Produkte wie Word und Excel. Ebenso profitiert Amazon als führender Cloud-Anbieter von den aktuellen Entwicklungen.
Gewinner bleiben jedoch nicht zwangsläufig immer an der Spitze. Für Anleger bedeutet das, Risiken und Potenziale sorgfältig abzuwägen. Eine breite Diversifikation über Branchen und Anlageklassen hilft, Risiken zu minimieren und gleichzeitig die Chance von Gewinnern zu profitieren. Diese Strategie macht das Portfolio insgesamt widerstandsfähiger gegenüber Marktschwankungen. Und ob KI wirklich eine zentrale disruptive Innovation wird, wird sich im Nachhinein zeigen. Fest steht: Mit einer klaren Strategie, Mut und Expertenwissen lassen sich langfristige finanzielle Ziele entspannter erreichen.