Wie man die Seele eines Ortes wiedergibt
Carlos Martinez, zu Ihrem Firmenjubiläum hat der Quart-Verlag die Monografie «Carlos Martinez» veröffentlicht. Ihre Werke werden darin als «starke Figuren» beschrieben. Wie schafft man es vom «normalen» Architekten zum Kreateur von aussergewöhnlicher Architektur?
Schon im Studium am Abendtechnikum in St.Gallen haben mich die weiterführenden Fragen im Zusammenhang mit Entwurfsaufgaben interessiert. Eingebungen fallen auch bei mir nicht vom Himmel – und Kreativität entsteht leider auch nicht beim Zigarrenrauchen auf dem Sofa. Meine Ideen entfalten sich jeweils bei der Arbeit, der Studie einer Aufgabe oder beim Skizzierprozess. Ich habe mir schon damals die Vorgehensweise angewöhnt, die Aufgabe und deren Lösungsansätze verbal und figurativ zu formulieren. Bevor ich mit einem Entwurf überhaupt beginne, schreibe ich mit dem Bleistift am Konzept der Idee und zeichne Motive zur möglichen Lösung. Wir stellen dabei nicht nur die Fragen, die der Bauherr vorgegeben hat, sondern gehen darüber hinaus und erforschen die nonverbale Kommunikation, die dem Gebäude unausweichlich zugrunde liegt. Mich interessiert, was ein Gebäude über den Auftraggeber, den Standort, seine Zweckbestimmung, gesellschaftliche Fragen und Nachhaltigkeit aussagt.
In anderen Berufen ist dieser Prozess ähnlich …
Ja, und ich glaube, dass in jeder Tätigkeiten Einfallsreichtum auf seine Art notwendig ist, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Oft ist es notwendig, dafür die Extra-Meile zu gehen, um in der intensiven Auseinandersetzung neue Aspekte zu entdecken. Diese Prämisse gilt sowohl für Handwerker als auch für Banker oder Buchhalter, die innovative Ideen zur Steueroptimierung entwickeln. Innovative Methodik ist überall gefragt und macht den entscheidenden Unterschied.
Auf einen Schlag auch über die Grenzen der Ostschweiz hinaus bekannt geworden sind Sie 2005 mit der Stadtlounge «Roter Teppich» in St.Gallen, die Sie zusammen mit Pipilotti Rist entwickelt hatten. Wie wichtig ist Ihnen heute der städtebauliche Kontext bei Ihren Bauten?
Tatsächlich ist unsere Arbeit bereits zehn Jahren vor dem Wettbewerb für die Stadtlounge international publiziert worden. Schon damals hielten wir im Norden Europas mehrere Vorträge. Unsere Projekte, obwohl nicht spektakulär, fanden in der Fachwelt Beachtung, weil sie sich mit dem Thema des kostengünstigen Siedlungs- und Wohnungsbaus befassten. Bei jedem Entwurf ist es von wesentlicher Bedeutung, stets an die Stadt, ihre Bewohner und die damit verbundene Urbanität zu denken. Unsere Gebäude existieren immer im Kontext und stehen im kontinuierlichen Dialog mit ihrer konstruierten und natürlichen Umgebung. Ebenso ist es wichtig, die Seele des jeweiligen Ortes einzufangen, um sie nach Bedarf zu verstärken oder zu beruhigen. Auch in der Agglomeration ist der ortsbauliche Bezug wichtig. Er muss die Aufenthaltsqualität unserer Lebensräume intensivieren.
In den vergangenen drei Jahrzehnten haben Sie bekannte Ostschweizer Baudenkmäler geschaffen, darunter die Klinik Oberwaid in St.Gallen, das Hardinge-Kellenberger-HQ in Goldach, Knies Zauberhut in Rapperswil oder die Überbauung Arrivée in Horn. Gibt es einen gemeinsamen Nenner Ihrer Arbeiten, seien sie nun für private, gewerbliche oder institutionelle Bauherren entstanden?
Es wäre womöglich von Anfang an einfacher gewesen, sich auf einen bestimmten Baustil und ein gewisses Baumaterial zu beschränken. Kollegen, die sich ausschliesslich auf Beton oder ihren Stil spezialisieren und diesen über Jahre hinweg verfeinern, haben klare Vorteile. Sie beherrschen den Umgang mit den Komponenten und ihrer spezifischen Handhabung perfekt, was zu Effizienz und finanziellen Vorteilen führt. Mir macht es Spass, an verschiedenen Materialien zu forschen. Aus meiner Sicht sind je nach Ort und Aufgabe sowohl die Formen als auch die Sprache der Details individuell so verschieden, dass es situativ eine Entsprechung in der Wahl der Stofflichkeit benötigt.
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Wer Carlos Martinez Architektur betrachtet, findet darin eine wiederkehrende Denk- und Herangehensweise …
… und einen unbändigen Gestaltungswillen für massgeschneiderte Lösungen, stimmt. So sind unsere Projekte sich zugewandt, wenn auch sehr unterschiedlich. Der Verwandtschaftsgrad unserer Werke lässt sich manchmal eher mit «Cousins» als mit «Geschwistern» vergleichen … (lacht). Was unsere Arbeit jedoch sehr einheitlich macht, ist die enge Zusammenarbeit mit den Auftraggebenden. Ihre Anforderungen und Wünsche formen wir zu einer massgeschneiderten gemeinsamen Vision, die sich harmonisch, funktionell hochstehend und ästhetisch mit der Umgebung zu einem Bild zusammenfügt. Dabei schaffen wir aussen und innen Erlebnisräume für Menschen.
Aktuell suchen Sie vier Spezialisten für die Standorte Berneck und St.Gallen. Wie gehen Sie bei der Auswahl Ihrer Angestellten vor, worauf achten Sie besonders?
Wir haben in den vergangenen Jahren grosses Glück gehabt und konnten unser Team, der Auftragslage entsprechend, mit kompetenten Fachkräften verstärken. Da es massiv an Fachkräften mangelt und jede Person einzigartig ist, sind wir permanent auf der Suche nach Talenten. Dafür bieten wir Anreize, die dem modernen Arbeitsmarkt angepasst sind. Familienfreundlichkeit, Flexibilität und ein konstruktiver Teamgeist sind für unsere manchmal entbehrungsreichen Leistungen unerlässlich.
Sie verfügen über eine sehr hohe Frauenquote von 34 Prozent im Team. Zufall?
Jein. Der Durchschnitt liegt bei Schweizer Architekturbüros zwar bei lediglich zwölf Prozent. Grundsätzlich gilt bei uns aber: Wenn sich jemand mit den richtigen Qualifikationen meldet, der zu uns passt, stellen wir prophylaktisch ein – egal, ob Mann oder Frau. Wichtiger sind uns das Sozialverhalten und ein selbstbewusster Charakter. Wir stellen nur Persönlichkeiten ein, die mit dem Rest unseres Teams harmonieren. Die harmonische, vielseitige Stimmung im Team verbunden mit der interessanten und abwechslungsreichen Arbeit haben dazu beigetragen, dass wir loyale langjährige Mitarbeitende aufbauen konnten. Die Freude bei der Umsetzung wirkt sich ausschlaggebend auf die Werke, auf den Umgang mit den Kunden und Partnern aus.
Und wie haben Sie die Führungsetage organisiert?
In der Geschäftsleitung fällen wir Entscheidungen gemeinsam und sprechen auf Augenhöhe. Hier verteilen wir die Aufträge und delegieren die Aufgaben innerhalb der Projektteams. Matthias Waibel leitet den Entwurf, Raffaele Falivena gewährleistet die Ausführungsplanung. Da wir in den vergangenen Jahren auf 50 Mitarbeiter angewachsen sind, haben wir die Geschäftsleitung um drei Personen erweitert: Nevzad Hamzic leitet das Baumanagementteam, Friederike Heinzig kümmert sich um die Administration und das Personal, während David Gschwend wichtige Projekte vom Entwurf an ganzheitlich betreut und generell die GL unterstützt. Meine Frau Fatima berät mich bei allen wichtigen Fragen und ist durch ihre Expertise im Innendesign eine Fachkraft für sich.
Text: Stephan Ziegler
Bild: Marlies Beeler-Thurnheer, zVg