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Die Zeiten der Friedensdividende sind vorbei

Die Zeiten der Friedensdividende sind vorbei
Jan Riss
Lesezeit: 4 Minuten

Am 24. Februar 2022 startete Russland die Invasion in der Ukraine. Auch in der Ostschweiz spürt man den Krieg: Importe und Exporte sind eingeschränkt, es kommt zu Engpässen und Unterbrüchen – und Verteuerungen. Den Einfluss auf die hiesige MEM-Industrie kennt Jan Riss, Chefökonom der IHK St.Gallen-Appenzell.

Die unmittelbaren Auswirkungen des Ukrainekrieges auf den Schweizer Aussenhandel seien überschaubar, sagt Jan Riss. So sind die Handelsverflechtungen der Schweiz mit der Ukraine, Russland und Belarus vergleichsweise gering. «Vor Ausbruch des Kriegs machten die Ausfuhren in die Ukraine gerade mal 0,2 Prozent der Ostschweizer Gesamtexporte aus. Exportiert wurden vor allem Metalle. Importseitig lag der Anteil bei 0,1 Prozent, mit land- und forstwirtschaftlichen Gütern als wichtigste Warenkategorie. Für Russland betrug der Exportanteil ein Prozent (hauptsächlich Maschinen, Apparate und Elektronik), der Importanteil 0,2 Prozent – Gas- und Ölimporte tauchen nicht in der Importstatistik mit Russland aber nicht auf, da diese indirekt über andere Länder eingeführt werden», so der IHK-Chefökonom.

Mehr als die Hälfte der MEM-Unternehmen vom Krieg betroffen

Nach Kriegsausbruch gingen unter anderem die Exporte von Maschinen, elektrischen Geräten und Uhren nach Russland stark zurück. Bestimmte Warenarten werden aufgrund von Sanktionen gar nicht mehr exportiert, darunter Luft- und Raumfahrzeugteile. Importseitig gab es demgegenüber einen deutlich geringeren Einbruch. 

«Einen Monat nach Kriegsausbruch berichteten in einer nationalen Umfrage von Economiesuisse, die von der IHK mitgetragen wurde, 55 Prozent der MEM-Unternehmen von einer Kriegsbetroffenheit. Rund ein Drittel war zudem von Sanktionen betroffen», weiss Riss.

«Eine IHK-Umfrage zeigte klar, dass Ostschweizer MEM-Unternehmen ihre Investitionen nicht zurückfahren.»

Skepsis statt Vertrauen

Indirekt treffe der russische Angriffskrieg die Schweiz als kleine, offene Volkswirtschaft aber weitaus empfindlicher. «Es handelt sich nicht bloss um einen Angriff auf die Ukraine – sondern auf die demokratische, liberale Welt insgesamt», betont Jan Riss. Der Krieg verstärke die Entwicklung hin zu einer multipolaren Welthandelsordnung. Heisst: An die Stelle von offenen Grenzen, Multilateralismus und gegenseitigem Vertrauen rückt eine wachsende Skepsis. Protektionistische Massnahmen nehmen zu. Zölle und insbesondere nichttarifäre Handelshemmnisse sind plötzlich wieder salonfähig, «selbst wenn sie grundlegenden WTO-Richtlinien widersprechen». Es bilden sich handelspolitische Fronten.

«Für Schweizer Exporteure wird es somit zunehmend schwierig, auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen. Sie müssen sich noch bewusster strategisch mit den Fragen beschäftigen, mit welchen Partnern sie in welchem Abhängigkeitsverhältnis zusammenarbeiten und in welchen Märkten sie in welcher Intensität tätig sind», erläutert Riss. «Local for local» – also Beschaffung und Produktion im Zielmarkt – werde zunehmend zur Notwendigkeit. «Als kleine, rohstoffarme Volkswirtschaft wäre die Schweiz aber inhärent auf offene Märkte angewiesen. Unser Land profitiert von einer globalisierten Welt. Sieben von zehn Beschäftigten in der Schweiz arbeiten in Unternehmen, die im internationalen Handel tätig sind.» Auch die Zeiten der Friedensdividende sind vorbei, der Schweizer Staatshaushalt werde – leider zurecht – wieder verstärkt durch Sicherheitsausgaben belastet, weiss Riss.

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Weniger Kabelbäume, Metalle und Gase

Und wie hat sich die Verfügbarkeit von Rohstoffen und Komponenten für die Produktion durch den Konflikt verändert? «Die Ukraine ist ein wichtiger Lieferant von Kabelbäumen, welche essenziell für die Automobilindustrie sind», sagt der IHK-Chefökonom. Kabelbäume können nicht einfach nachträglich eingebaut werden, weshalb bei Lieferausfällen die ganze Autoproduktion ins Stocken kam. «Zwar werden in der Ostschweizer Industrie keine Autos gefertigt, jedoch gibt es in der Region zahlreiche Zulieferer für die Autoindustrie.»

Weiter waren Russland und die Ukraine wichtige Lieferanten für Industriemetalle wie Eisen, Stahl, Aluminium, Kupfer, Platin oder Titan. Diese werden in Autos und Smartphones, in Flugzeugen, Maschinen oder im Bauwesen eingesetzt. Ebenfalls betroffen war und ist die Chip-Produktion, da Russland und die Ukraine wichtige Bestandteile liefern. «So ist Russland ein bedeutender Exporteur von Nickel und Palladium, die Ukraine von Neon. Die Neon-Produktion fand schwergewichtig in Odessa und dem völlig zerstörten Mariupol statt, die dafür notwendigen Rohstoffe stammten aus Stahlwerken aus dem umkämpften Südosten», gibt Riss zu bedenken.

Der Kriegsausbruch habe die globalen Transport- und Logistikbedingungen weniger stark getroffen als zunächst befürchtet. Die Normalisierung der globalen Transportpreise im Nachgang zur Coronapandemie fand weitgehend ungehindert seine Fortsetzung. «Aber Einschränkungen waren und sind vorhanden: Wegfall russischer Luft-, Schienen- und Seefrachtkapazitäten, Luftraumsperrungen, gestörte Eurasia-Route, Engpässe bei Europaletten oder eingeschränkte Möglichkeiten für Transportversicherungen», zählt Jan Riss einige unmittelbaren Folgen auf.

«Es handelt sich nicht bloss um einen Angriff auf die Ukraine – sondern auf die demokratische, liberale Welt.»

Energiepreise nicht nur wegen Krieg hoch

Der Krieg hat auch zu einem Anstieg der Kosten für Energie geführt, was sich wiederum auf die Produktionskosten in der MEM-Industrie auswirkt. «Die Unternehmen spürten die Verwerfungen an den Energiemärkten unmittelbar. Die Unsicherheit über die Versorgungssicherheit war gross. An den Spotmärkten wurden Strom und Gas zwischenzeitlich für das Zehnfache der üblichen Preise gehandelt», bilanziert Riss. Zwar haben sich die Preise wieder weitgehend normalisiert, aber der Energieschock hallt nach: Seit Kriegsausbruch stiegen die Produzentenpreise um 2,8 Prozent, die Konsumentenpreise um knapp fünf Prozent. Die höheren Energiepreise haben sich durch das ganze System «durchgefressen».

Man müsse aber auch festhalten: «Der russische Angriffskrieg ist nicht alleiniger Treiber für die Energiepreise. Bereits im November 2021, also noch vor Kriegsausbruch, warnte die Ostral mittels Rundschreibens an die Grossverbraucher vor einer drohenden Energiemangellage.»

Auf die Investitionsentscheide der Ostschweizer MEM-Unternehmen hat der Ukrainekrieg wenig Auswirkungen – am ehesten belasten die Nachwehen des Energieschocks. «Eine IHK-Umfrage vom vergangenen Herbst zeigte klar, dass Ostschweizer MEM-Unternehmen ihre Investitionen nicht zurückfahren. Wettbewerbsfähigkeit führt im Hochlohnland Schweiz zwangsläufig über Innovationskraft – und den damit verbundenen Investitionen.»

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Resilienz als bester Schild

Welche Massnahmen empfiehlt die IHK St.Gallen-Appenzell KMU demzufolge zur Risikominimierung in unsicheren Zeiten? Das Schlagwort heisse «Resilienz» – auch wenn man es kaum noch hören möge, betont Riss. Gemeint ist damit, wie widerstandsfähig ein Unternehmen im Krisenfall ist und wie rasch es sich davon erholt. «Umfragen zeigen, dass die Ostschweizer Unternehmen diesbezüglich in den vergangenen Jahren viele Massnahmen ergriffen haben: Denken und planen in Szenarien, Diversifikation der Lieferketten, Erschliessung neuer Absatzmärkte, aktiveres Lagermanagement, Notfallpläne im Falle einer Energiemangellage.» Wichtig sei, dass dieses gewonnene Wissen auch bleibt. Denn eines sei gewiss: «Die nächste Krise kommt bestimmt – wahrscheinlich völlig überraschend und komplett anders.»

Text: Stephan Ziegler

Bild: Marlies Beeler-Thurnheer

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