Grosse Kochkunst ist kein Hokuspokus
Im Herbst 2022 hat Silvio Germann mit seinem Team das Restaurant im Landschlösschen Mammertsberg in Freidorf neu eröffnet, nur ein Jahr später adelt ihn der Gastro-Führer Gault Millau mit dem Prädikat «Koch des Jahres». Für den 34-jährigen Chef war das eine echte Überraschung, wie er sagt, «auch, weil ich weiss, dass es sehr viele sehr gute Köche in der Schweiz gibt.» Die Auszeichnung hat der Spitzenkoch gerne angenommen, «das gab noch einmal Schub für unser Restaurant, und das konnten wir gut gebrauchen.»
Was letztlich den Ausschlag gegeben hat, ihn auszuzeichnen, weiss der Hochgelobte nicht. Aber er weiss nun definitiv, dass er und sein Team vieles richtig machen. «Im Mammertsberg haben wir ein Restaurant, das einzigartig ist in der Schweiz. Mit dem Gebäude und dem Ablauf eines Abends können wir den Gästen ein Gesamterlebnis bieten.» Die Gäste beginnen den Abend im oberen Stockwerk mit ausgesuchten Snacks, bevor sie die markante Treppe ins eigentliche Restaurant gehen, wo dann das Menu serviert wird. Immer werden die Gäste von Könnern betreut: «Wir haben ein ausgezeichnetes Team, auch unser Service ist wie das Essen selbst auf einem Top-Niveau.»
Die Gault-Millau-Redaktion ist des Lobes voll: «Silvio Germann ist nicht nur ein hervorragender Koch, der Geschmack über alles stellt. Er ist auch ein ‹Chef 2.0›: Seine jungen Mitarbeiter denken und kreieren mit. So muss es sein, Herumbrüllen ist out.» Die wichtigsten Mitspieler in Germanns Team werden vom Gastro-Führer namentlich hervorgehoben: Souschef Jonas Grundner, Patissière Stephanie Mittler, Gastgeber und Sommelier Giuseppe Lo Vasco.
Von Caminada gefördert
Silvio Germann ist vergleichsweise jung, aber längst keine Neuentdeckung mehr: Während sieben Jahren baute er für seinen Mentor Andreas Caminada, einen der sechs 19-Punkte-Chefs in der Schweiz, das Restaurant Igniv im Grand Ressort Bad Ragaz auf. Germann erarbeitete sich dabei zwei Michelin-Sterne und 18 Gault-Millau-Punkte. Das Igniv-Konzept sieht vor, dass die Gäste wie am Familientisch ihr Essen teilen und voneinander probieren; inzwischen gibt es unter dem Dach der Caminada Group mehrere Igniv-Ableger mit dem Sharing-Konzept, eines sogar in Bangkok.
«Das war eine sehr lehrreiche Zeit im Grand Resort, ich bin ausserordentlich dankbar, dass ich das machen durfte», sagt Germann rückblickend. «Ich war aber bereit für etwas Neues.»
Die Verbindung zu Andreas Caminada blieb bestehen, als Silvio Germann zu neuen Ufern aufbrach: Das Restaurant Mammertsberg gehört heute zur Caminada Group. Silvio Germann ist nun aber sein eigener Chef, er drückt dem Haus den Stempel auf. Ein mutiges Unterfangen, denn während fast einer Dekade verwöhnten hier August und Luisa Minikus ihre Gäste und prägten so die Erwartungen an das Haus. «Ich muss ehrlich sagen, die ersten drei Monate waren alles andere als einfach», räumt Silvio Germann ein. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, einzelnen Stammgästen gefielen die Veränderungen nicht, und seien es auch nur die weissen Sneaker, die das ganze Team trägt. «Es gab Leute, die uns sagten: ‹wenn ihr so weitermacht, gibt es euch in einem Jahr nicht mehr›», erinnert sich Silvio Germann. Nun, diese Propheten lagen falsch, und inzwischen spricht der junge Spitzenkoch über ein «Riesenjahr», das er mit seinem durchwegs noch jüngeren Team erlebt habe.
An der Kritik wachsen
Doch gerade am Anfang, als das Team rund um die Eröffnung ohnehin extrem gefordert war, hat die Kritik Silvio Germann ziemlich getroffen, «schliesslich steckte mein Herzblut in dem Projekt, wir alle gaben jeden Tag unser Bestes.» Irgendwann sah er ein, «dass wir es nicht allen recht machen können – und dass das auch okay ist».
Gleichzeitig hat das Team auch gelernt, aus sachlicher Kritik etwas mitzunehmen, um daran zu wachsen, «uns ist es wichtig, dass die Gäste offen ihre Meinung sagen.» Oft bezog sich die Kritik auf kleine Dinge, «am Anfang zum Beispiel war ich zu wenig draussen bei den Gästen zu sehen, weil es mich in der Küche brauchte», sagt Germann. Einfache Lösung: Gehen
einzelne Gäste früh, bevor der Chef die Küche verlassen kann, dann lädt der Service die Gäste beim Gehen ein, in der Küche hereinschauen. Vom einschlägigen Gastro-Führer hat Silvio Germann nicht nur die Auszeichnung zum Koch des Jahres erhalten; seine neue, eigene Küche wurde mit denselben hohen 18 Punkten ausgezeichnet, die er schon in Bad Ragaz im Igniv hatte. Das ist, nebenbei bemerkt, ein Punkt mehr, als die Vorgänger im Mammertsberg erhielten. Dennoch gibt es wohl einzelne Stammgäste aus früheren Jahren, die das Restaurant unter neuer Führung noch nie ausprobiert haben. Dafür kommen andere, und in der Regel sind sie vom Gebotenen sehr angetan und kommen wieder. Der neue Mammertsberg baut sich gerade eine neue Fangemeinde auf.
Lange Tage, faire Löhne
Die gesamte Gastronomie klagt wie viele andere Branchen auch über den Fachkräftemangel. An einer Topadresse zeigt sich das Problem weniger in der Küche, «im Mammertsberg sind wir da gut besetzt», sagt Germann. «Schwierigkeiten gibt es wie überall auch bei uns im Service.» Weil Servicefachleute Mangelware sind, sei es erst recht wichtig, respektvoll mit den Mitarbeitern umzugehen. Spitzenlöhne kann die Spitzengastronomie dennoch nicht zahlen, «unsere Löhne sind aber sehr fair.» Die Arbeitstage können oft länger werden, statt achteinhalb Stunden können es auch mal maximal zehn Stunden sein. «Wir gleichen das übers Jahr aus, alle Überstunden werden als Ferien abgegolten,» erklärt Silvio Germann, «auch in der Gastronomie schauen wir heutzutage auf die Stunden.» Konkret schaut ein Zeiterfassungssystem, alle Mitarbeiter stempeln, pro Woche dürfen sie maximal 50 Stunden arbeiten. Das Restaurant hat neun Wochen Betriebsferien, da werden diese Saldi wieder ausgeglichen.
Den vielen talentierten jungen Leuten in seinem Team kann Silvio Germann gerade auch über die Caminada Group spannende Perspektiven bieten, sie können bei Gelegenheit auch in einem anderen Top-Betrieb Erfahrungen sammeln. Umgekehrt können auch Talente zum Mammertsberg vermittelt werden, die sich anderswo in der Gruppe beworben hatten. Für junge Leute, die mit Lust und Passion im Beruf stünden, seien Erfahrungen an Top-Adressen fast mehr wert als Geld. «Trotzdem ist es wichtig, dass wir bei den Löhnen auf Augenhöhe sind mit anderen Betrieben, auch, weil unsere Leute begehrt sind.»
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Das Team im Mammertsberg zählt 19 Mitarbeiter, davon sind acht in der Küche und sieben im Service, dazu kommen Abwascher und ein Zimmermädchen für die sechs Hotelzimmer. «Der Erste macht morgens um sieben das Frühstück, der Letzte geht morgens um zwei nach Hause, wenn die Abrechnungen des Tages gemacht sind.»
Das Restaurant Mammertsberg hat am Mittwoch abends und Donnerstag bis Sonntag mittags und abends geöffnet. Pro Seating können maximal 45 Gäste verköstigt werden, Donnerstag bis Sonntag werden so zwischen 50 und 80 Gäste pro Tag gezählt. Die Lohnkosten sind in der Spitzengastronomie nur schon dadurch ein Thema, dass sich mehr Mitarbeiter um einen Gast kümmern als in einem durchschnittlichen Restaurant. «Diese Rechnung muss am Schluss aufgehen, wir wollen ja kein Geld verlochen», sagt Silvio Germann. Darauf, dass die Zahlen im Lot sind, achtet deshalb auch das gemeinsame Controlling der Caminada Group. Die Gruppe half 2022 auch, die Investitionen beim Umbau zu stemmen; im Tagesgeschäft hat das Restaurant aber eine eigenständige Rechnung.
Bewusster Umgang mit Rohstoffen
«Wir haben unser Budget, dass wir erreichen müssen», sagt Silvio Germann, «das haben wir recht gut im Griff.» Deshalb wird in der Küche auch sorgfältig mit den Rohstoffen umgegangen, «wir hauen nicht überall noch Kaviar oder Trüffel drauf, eine gute Küche kann auch mit einfachen Produkten etwas sehr Schönes machen.»
Freilich mit ausgesuchten, qualitativ hochstehenden Produkten. «Wir arbeiten viel mit Produzenten aus der Region, insbesondere einigen Bauern, zusammen.» Beim Fleisch setzt der Mammertsberg auf Michael Vogt aus Staad, dessen «Hinterhofmetzgerei» 2022 bei Best of Swiss Gastro Gesamtsieger wurde.
«Ich finde es auch schön, einmal eine Langustine auf dem Menu zu haben, auch ein Salzwasserfisch darf gelegentlich sein. Im Hinterkopf habe ich aber immer, dass wir respektvoll mit den Produkten umgehen, weil wir nicht endlos davon haben,» erklärt Silvio Germann. «Gerade hier am Bodensee wurde ja ein mehrjähriges Fischereiverbot auf Felchen verhängt, weil der Bestand zu stark dezimiert wurde.»
Wenn der hochgelobte Spitzenkoch selbst einmal frei hat, geht er gerne auch in andere Restaurants essen. Das kann auch einmal ein Wurst-Käse-Salat sein, Germann geht gerne, mit Kollegen oder mit der Familie essen, dann muss nicht immer ein Gourmet-Lokal sein, «dann geht es primär darum, die Zeit in angenehmer Gesellschaft zu geniessen.» Schon aus professioneller Neugierde kehrt Silvio Germann aber auch an anderen Top-Adressen ein: «Ich war gerade bei Mitja Birlo im The Counter», erzählt Silvio Germann – jedem Kollegen also, der 2022 als Koch des Jahres ausgezeichnet wurde. «Ich schaue gerne, was andere machen – nicht zum Abschauen, sondern um zu sehen, wie wir stehen, wo wir besser werden können,» sagt Germann. «Wir dürfen keinen Tunnelblick bekommen, sondern müssen wörtlich stets über den Tellerrand hinausblicken und probieren, jeden Tag besser zu werden.»
Der Austausch unter Köchen sei sehr gut, «ich bin mir nicht zu schade, um Kollegen etwas zu fragen». Da hat sich auch etwas verändert in der Gastrobranche: «Früher war das Rezeptbüchlein hoch geheim, das ist bei der heutigen Generation überhaupt nicht mehr der Fall. Der Austausch befruchtet uns und bringt uns alle weiter.» Fachsimpeln mit dem Chef dürfen auch die Gäste, «ich gebe meine Rezepte sehr gerne raus, wenn jemand fragt». Oft nachgefragt wird das Rezept für das Sauerteigbrot, das zum Essen gereicht wird. «Ich mache keine grossen Geheimnisse um meine Rezepte. Meistens sind es einfache Produkte, vieles kann man auch zu Hause umsetzen, es ist kein Hokuspokus.» Nein, Zauberei ist es wohl nicht. Wenn man Silvio Germann zuhört, wird klar: Es ist die pure Freude, die Möglichkeiten einer guten Küche auszuloten. Und viel harte Arbeit.
Text: Philipp Landmark
Bild: Marlies Beeler-Thurnheer