Gast-Kommentar

Für Andere

Für Andere
Louis Grosjean
Lesezeit: 3 Minuten

Bin ich Leader meinetwegen oder um etwas für andere zu tun? Bin ich ein Narzisst oder ein Altruist? Es gibt Grund zur Annahme, dass viele Führungspersonen zur ersten Kategorie gehören. Ein Selbstcheck anhand der folgenden Überlegungen tue jedem Leader gut, ist Louis Grosjean in unserer Serie «LEADER-Philosophie» überzeugt.

Text: Louis Grosjean, Partner altrimo

Wozu wird man Leader? Zahlreiche Beispiele bestärken meine Annahme, dass (zu) viele Leader ins Amt kommen, um ihren Narzissmus zu befriedigen. Sie tragen ihren Titel wie eine Medaille. Sie kümmern sich mehr darum, diese zu polieren, als ihre Untergebenen weise zu führen. Sie konzentrieren ihre Kräfte auf den Machterhalt, anstatt diese für das Gemeinwohl einzusetzen.

Um Beispiele zu treffen, ist keine Reise zu einem medaillenbehangenen Diktator notwendig. Die hiesige Finanzindustrie ist durchsetzt von solchen Parasiten: Man denke an viele sog. «Key Risk Taker» der Credit Suisse. Keine Organisation ist vor solchen Persönlichkeiten gefeit.

Deshalb nehme ich diesen Artikel zum Anlass, dem Wesen der Führung bewusst als Widerlegung dieser narzisstischen Haltung nachzugehen. Das tue ich einleitend mit etymologischen Aspekten und setze es mit einem Gedankenzug des französischen Philosophen Emmanuel Mounier fort.

Die Last

Das Wort «Offizier» stammt vom lateinischen «Officium»: die Pflicht, die Aufgabe. Wer Offizier ist, hat zuerst Pflichten. Annehmlichkeiten kommen allenfalls an zweiter Stelle, um die Pflichterfüllung zu erleichtern – und nicht, weil der Offizier etwas Besseres ist.

Vieles in unserer Sprache deutet darauf, dass Verantwortung in erster Linie eine Last ist. Man «trägt» Verantwortung, man «übernimmt» sie. In einer häufig angetroffenen Wortkombination kommt «Würde» oft und zurecht mit «Bürde» einher. Gewisse Aufgaben erfordern «breite Schultern».

Für andere wollen und entscheiden

Emmanuel Mounier war nicht nur Philosoph. Er war auch aktiver Publizist und Widerstandskämpfer gegen das Vichy-Regime im Zweiten Weltkrieg. Seine Definition des Chefs besticht durch den altruistischen Fokus. «Ein Anführer wird nicht über äussere Zeichen definiert, sondern durch eine Berufung. Er ist vor allem derjenige, der die Last der anderen übernimmt, die Last ihrer zögerlichen oder versagenden Verantwortung. Der Anführer ist derjenige, der nicht nur seinen eigenen Anteil von Verantwortung und Risiko übernimmt, sondern vom Temperament her auch die Lust und die Gabe hat, viele weitere Anteile auf sich zu nehmen, die Tausende von Menschen um ihn herum abladen. Er ist derjenige, der die Lust und die Gabe hat, für andere zu wollen und zu entscheiden. Sein Einfluss resultiert aus dem kommunikativen Impuls, den seine Qualitäten in ihrer gelebten Ausübung verbreiten, und nicht aus einer äusseren Inflation des Prestiges.»

Leader sind dazu da, die Last anderer auf sich zu nehmen. Wollen und Entscheiden sind eine Last. Sie erfordern breite moralische Schultern. Sie kosten Energie.

Deshalb darf ein Leader auch mal müde sein. Deshalb darf er seine Aufgabe nach getaner Arbeit auch an einen Nachfolger übergeben. Deshalb wird ein richtiger Leader dies nicht nur dürfen, sondern froh darum sein. Deshalb wird er nicht an seinem Amt kleben wie lebenslange Diktatoren oder hochbezahlte Manager, die nichts bringen.

Die Frage, die sich jeder Leader anhand der Definition von Mounier stellen kann, ist: Warum wurde ich zum Leader? Was ist der Anteil an Würde, und was ist der Anteil an Bürde? Brauche ich die Insignien der Macht, um effektiver zu führen, oder aus purer Bequemlichkeit – oder gar, um mir vorzumachen, ich sei besser als die anderen? Schaffe ich im Amt Mehrwert für andere?

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