Akademisches Know-how für die Thurgauer Wirtschaft
Dass die Digitalisierung auch der Thurgauer Wirtschaft Chancen eröffnet, ist keine Binsenweisheit. Vielmehr gilt es, solche Chancen tatsächlich zu erkennen und systematisch zu nutzen. Um der Digitalisierung im Kanton etwas auf die Sprünge zu helfen, hat die Industrie- und Handelskammer Thurgau den Digital & Innovation Campus initiiert und auch den Anstoss zu einem Forschungsinstitut für Digitalisierung gegeben.
Thurgauer Institut für Digitale Transformation (TIDIT) heisst dieses inzwischen vierte Hochschulinstitut auf Thurgauer Boden. Seine Geschäftsführerin Caroline Obolensky-Schätzle hat eine klare Vorstellung davon, wie sich das Institut und mit ihm der Campus entwickeln sollen: «In fünf Jahren sind wir eine etablierte Anlaufstelle für Themen der Datenverarbeitung, des Datenmanagements und probabilistischerKI-Anwendungen im Thurgau. Auch der Digital & Innovation Campus floriert, und es gibt hoffentlich schon erste Ausgründungen.»
Hochschulinstitute auf Thurgauer Boden
Im Thurgau gibt es abgesehen von der Pädagogischen Hochschule keine anderen Hochschulen. Um dieses Manko etwas auszugleichen, haben findige Köpfe schon vor 25 Jahren eine Zusammenarbeit mit Hochschulen in Gehdistanz zur Kantonsgrenze begonnen. Heute gibt es in Kreuzlingen mit dem Institut für Zelluläre Biologie und Immunologie und dem Thurgauer Wirtschaftsinstitut zwei angehängte Institute der Universität Konstanz auf Thurgauer Boden; in Tägerwilen arbeitet mit dem Institut für Werkstoffsystemtechnik ein An-Institut der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Gestaltung Konstanz (HTWG). Diese Institute werden von der Thurgauischen Stiftung für Wissenschaft und Forschung organisatorisch geführt und finanziert, akademisch ist jeweils eine der beiden Konstanzer Hochschulen verantwortlich.
Ein weiteres, fünftes Hochschulinstitut entsteht gerade in Tänikon: Am Sitz von Agroscope und Swiss Future Farm nimmt das Institut für Intelligente Systeme und Smart Farming der OST – Ostschweizer Fachhochschule seinen Betrieb auf. Der Thurgau ist ein Trägerkanton der OST, die aber bisher noch keine physische Präsenz im Kanton hatte.
Das Thurgauer Institut für Digitale Transformation (TIDIT) seinerseits soll eine augenfällige Präsenz in einer spannenden Liegenschaft in Kreuzlingen bekommen. Das neue Institut hat in Fachkreisen bereits Interesse geweckt, «wir haben schon viele internationale Bewerbungen», sagt die Geschäftsführerin.
Organisatorisch basiert das TIDIT auf dem bewährten Modell der An-Institute, mit der Besonderheit, dass es akademisch sowohl von der Universität Konstanz als auch von der HTWG gleichzeitig betreut wird. In dieser Konstruktion ist schon angelegt, dass das Mega-Thema Digitalisierung aus verschiedenen Perspektiven angegangen wird; das TIDIT möchte sich neben angewandter Grundlagen-Informatikforschung auch interdisziplinäre und transdisziplinäre Forschung und Zusammenarbeit auf die Fahne heften. «Das ist sehr relevant», sagt Caroline Obolensky, «wenn verschiedenste Fachbereiche und Institutionen aus der Praxis und der Forschung zusammenkommen und nicht jeder in seinem Silo bleibt, dann wird Mehrwert geschaffen.» Die Sozialwissenschaftlerin hat Digital Business Innovation nicht nur akademisch vertieft, sondern hat selbst auch zwei Start-ups gegründet.
Institut benötigt Drittmittel
Starten wird das TIDIT mit zwei Forschungsgruppen, gerade werden die beiden Leiter dafür rekrutiert. Jede Forschungsgruppe wird dann um zwei Doktoranden ergänzt. In absehbarer Zeit soll auch noch eine dritte Forschungsgruppe eingesetzt werden. Nächstes Jahr umfasst das Institut somit gut zehn Personen. Darin mitgezählt sind die beiden Co-Vorsitzenden des An-Instituts, Michael Grossniklaus, Professor für Computer Science an der Uni Konstanz, und Oliver Dürr, Professor für Data Science an der HTWG Konstanz. Das Institut hat auch bereits ein hochkarätiges akademisches Advisory-Board.
Finanziert wird das TIDIT durch die Thurgauer Stiftung Wissenschaft und Forschung, die wiederum ein Kooperationspartner von der Campus-Stiftung ist, die von der IHK gegründet wird. Insgesamt 20 Millionen Franken aus dem Topf der TKB fliessen in das Projekt, das Geld geht je zur Hälfte an den Campus und an das Institut. Das TIDIT bekommt für einen Zeitraum von zehn Jahren zehn Millionen Franken, was ein ordentlicher Sockel ist, aber noch nicht reicht. «Wir müssen uns fremdfinanzieren und Drittmittel einwerben, das wird eine Daueraufgabe», weiss Caroline Obolensky. «Daher werden wir Kooperationsprojekte suchen.»
Als Kooperationspartner hat Caroline Obolensky hauptsächlich Thurgauer KMU und Start-ups im Auge, «wir wollen den Transfer von der Wissenschaft in die Praxis schaffen.» Die Forschungsgruppen des TIDIT werden sich auf angewandte Grundlagen-Informatikforschung – Computer-Science, Data-Science – fokussieren. Dabei sollen sie aber nicht im Elfenbeinturm forschen, sondern sich mit konkreten Problemen aus der Wirtschaft auseinandersetzen. Idealerweise kann eine solche Kooperation als Innosuisse-Projekt aufgesetzt werden, die Schweizerische Agentur für Innovationsförderung steuert dann einen guten Teil der Finanzierung bei.
Auch interessant
Daten als Basis der Digitalisierung
Künftig können also Thurgauer Unternehmen, die ein Daten-Management-Problem haben, sich zum Beispiel mit Predictive Maintenance Forecast befassen möchten oder ein Analyse-Tool mit KI benötigen, an den Digital & Innovation Campus wenden, der dann das Unternehmen mit dem potenziell spannenden Forschungsprojekt an das TIDIT vermittelt. «Für die Forschung ist es immer relevant, mit Praxis-Daten arbeiten zu können, um konkrete Lösungen zu entwickeln.»
Die Forschung am TIDIT kann aber auch den umgekehrten Weg nehmen: Wenn die Forschungsgruppenleiter und die Doktoranden aus eigenem Antrieb ein interessantes Problem lösen, kann es in der Folge zu einer Ausgründung kommen, ein Start-up entsteht. Im Campus kann das junge Unternehmen durch die Start-up-Beratung und die Innovationsförderung optimal betreut werden. «Das ist ein sehr attraktiver Aspekt unseres Instituts: Wir sind kein Stand-alone, das TIDIT ist eingebettet in den Digital & Innovation Campus Thurgau», betont Caroline Obolensky. «Das Forschungsinstitut wiederum ist auch ein Zugpferd für den Campus.»
Die TIDIT-Geschäftsführerin weiss, dass es im Kanton Thurgau etliche Hidden Champions gibt, die schon sehr digital unterwegs sind. Ihre Zielgruppe sind aber vor allem Unternehmen, die noch einen Schritt machen wollen: «Wir möchten wirklich die vielen traditionellen KMU adressieren.» Der Digital & Innovation Campus soll die zentrale Anlaufstelle für Digitalisierungsfragen werden.
Als Grundlage für die digitale Transformation, die zu neuen Geschäftsmodellen führen kann, braucht es erst einmal Daten, und genau hier setzt das TIDIT an: «Daten müssen aufgearbeitet, gesäubert und verwertet werden. Dann braucht es Tools, die mit diesen Daten arbeiten, um eine digitale Transformation zu schaffen.»
Niederschwelliger Zugang
Neben der Zusammenarbeit mit den Forschungsgruppen und der Möglichkeit, ein Innosuisse-Projekt zu beantragen und dafür auch eigenes Geld in die Hand zu nehmen, möchte Caroline Obolensky den Thurgauer Unternehmen auch noch einen niederschwelligen Zugang zu akademischem Wissen bieten. Dafür ist sie eine Kooperation mit dem St.Galler Unternehmen Studyond AG eingegangen, das gemeinsam mit verschiedenen Hochschulpartnern Thesis-Navigator entwickelt hat. Thesis Navigator ist eine Matching-Plattform, die Studenten, die eine Bachelor-, Master- oder Doktorarbeit schreiben, mit Unternehmen zusammenbringt. Die Studenten können für ihre Arbeit ein reales, gesellschaftlich relevantes Praxisproblem bearbeiten, die Unternehmen haben ohne Kostenfolge für mehrere Monate einen Experten im Haus. Das ist nicht nur hinsichtlich der direkten Inputs interessant, die Firma kann so auch Employer Branding betreiben und gegebenenfalls gleich ein Talent für sich gewinnen.
In der Schweiz werden jedes Jahr über 65´000 Abschlussarbeiten geschrieben, im Durchschnitt wird jeweils ein halbes Jahr Arbeit investiert. Dieses Potenzial zu nutzen, helfe den Thurgauer Unternehmen sehr, ist Caroline Obolensky überzeugt. «Für mich ist es eine Herzensangelegenheit, den Thesis-Navigator im ganzen Thurgau auszurollen.»
Studie über den Thurgau
In diesen Tagen hat das TIDIT eine Digitalisierungsstudie gestartet, um herauszufinden, wo der Thurgau im Vergleich zur Restschweiz steht. Unternehmen, die sich an der Studie beteiligen, können dann auch branchenintern sehen, wo sie im Vergleich zu ihren Peers stehen. Abgefragt wird, ob schon Prozesse, Produkte oder die Kommunikation digitalisiert wurden. «Gefragt wird auch nach dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz», sagt Caroline Obolensky, «haben die Unternehmen Angst davor, oder sehen sie Potenzial darin? Wo wird KI allenfalls schon genutzt? Und wie?»
Die Studie soll dem TIDIT Hinweise geben, welche Themen zu beackern sich lohnen könnte. Um die Digitalisierung im Thurgau langfristig zu tracken, soll die Studie in den nächsten Jahren erneut durchgeführt werden. So entsteht ein Digitalisierungs-Trendbarometer, und so lässt sich auch interpretieren, welche Wirkung der Digital & Innovation Campus und das TIDIT haben.
Kleine Schubser wirken
Dass die Initiative im Thurgau einen Mehrwert schaffen dürfte, lässt sich aus einer anderen Studie ableiten, die Professorin Jasmin Seitz von der OST in Süddeutschland durchgeführt hat: Sobald man Unternehmen «nudged», ihnen also kleine Schubser gibt, sich mit dem Thema Digitalisierung zu beschäftigen, passiert schon sehr viel. Der Digital & Innovation Campus und das TIDIT sind wohl ein kräftiger Schubser.
Text: Philipp Landmark
Bild: Marlies Beeler-Thurnheer