O Thurgau: Der «Kanton Understatement» hebt ab
Liebgewonnene Vorurteile und Klischees halten sich hartnäckig. Es sind nicht nur die Auswärtigen, die den Thurgau als «Mostindien» bezeichnen, auch die Thurgauer selbst halten gerne an tradierten Bildern fest, zumindest, wenn sie bei einem Glas Wein zusammensitzen. Dann erklingt bald das Thurgauerlied:
Doch es gibt auch einen anderen Thurgau: Ein Land im Aufbruch, in das Grenzgänger zu Hightech-Firmen pilgern und Unternehmer für den Weltmarkt produzieren, in dem Spitzenforschung betrieben und hochstehende Bildung vermittelt wird. Und in dem es aufgeweckte zeitgenössische Kulturschaffende gibt – fühlt sich jemand berufen, das Thurgauerlied um eine neue Strophe zu ergänzen? Und nein, man muss deswegen keine bisherige Strophe streichen, man darf beim Singen etwas länger zusammensitzen.
Kanton im Aufbruch
Dieser Schwerpunkt liefert potenziellen Dichtern Material zur These, dass der Kanton im Aufbruch ist. Vor einem Jahr thematisierte der LEADER hier die Wettbewerbsfähigkeit der Kantone, darin verpackt auch die Meldung, dass eine Analyse aller Sitzverschiebungen von Unternehmen in der Schweiz den Kanton Thurgau als Gewinner ausweist. Der Leiter des Thurgauer Amts für Wirtschaft und Arbeit, Daniel Wessner, reagierte damals mit Understatement und wollte «den Ball flach halten». Die reine Zahl der Firmen sage noch nichts über deren Wertschöpfung aus.
Ähnlich cool reagiert nun der Direktor der IHK Thurgau, Jérôme Müggler, auf die Frage, ob der Thurgau tatsächlich im Aufbruch sei: Im nachfolgenden Interview verweist er zuerst auf Themen, bei denen er den Aufbruch noch nicht erkenne. Um dann eine ganze Indizienkette nachzuschieben, dass im Thurgau eben doch Einiges in Bewegung ist.
Fünf Hochschulinstitute im Kanton
Der Kanton, der ausser der Pädagogischen Hochschule keine Hochschulen führt, eröffnet in diesen Tagen das vierte und das fünfte Hochschulinstitut auf Thurgauer Boden. Der Thurgau ist akademisch kein schwarzes Loch, sondern der purlimuntere Mittelpunkt zwischen namhaften Fakultäten wie der ETH und der Universität Zürich, der HSG, der OST – Ostschweizer Fachhochschule, der Universität Konstanz und der HTGW Konstanz. Gerade die enge Zusammenarbeit mit den beiden Konstanzer Hochschulen zeigt, wie die schlauen Thurgauer aus der Not eine Tugend machen und akademische Forschung mit der eigenen Bildung und Wirtschaft vernetzen.
An der PHTG wiederum hat gerade ein Digital Learning Lab den Betrieb aufgenommen, und ein Institut für Intelligente Systeme und Smart Farming, das die OST gerade in Tänikon eröffnet, passt ohnehin ins Land, in dem nicht nur der Abendwind das Kornfeld bläht – es könnte auch der Abwind einer Drohne sein, die nach allfälligen Schädlingen sucht. Der Digital & Innovation Campus in Kreuzlingen dürfte ein Gesicht dieses anderen Thurgau 2.0 werden. Dass die Stiftung Innovation Thurgau das Technologieforum weiter entwickelt und die kantonale Verwaltung den Bürgern einen digitalen Schalter anbietet, passt ins Bild.
Thurgau flickt Ostschweizer Projekt
Auch das Areal Wil West steht für einen Aufbruch: Das gemeinsame Projekt der Kantone St.Gallen und Thurgau wurde vom Souverän des grössten Ostschweizer Kantons überraschend bachab geschickt, nun sieht es so aus, als ob die Thurgauer die gute Idee retten: Zwischen der Stadt Wil und der Autobahn soll ein Wirtschaftsgebiet mit hochwertigen Arbeitsplätzen entstehen, dafür verzichten zahlreiche umliegende Gemeinden auf Ergänzungen der lokalen Gewerbezonen. Die Nutzung der Stadtkaserne als vielfältiges kulturelles und wirtschaftliches Begegnungszentrum kann Frauenfeld einen Schub verleihen, als PhytoValley Switzerland will sich der Oberthurgau als «Epizentrum der Naturmedizin in der Schweiz» positionieren und die Kompetenz der verschiedenen Unternehmen in der Pflanzenmedizin herausstreichen. In Sulgen entsteht zurzeit nicht einfach ein Lokal für überbetriebliche Kurse, sondern der «Berufsbildungscampus Ostschweiz»: Hier werden Berufsleute aus neun oder mehr Berufsverbänden ihre Aus- und Weiterbildung geniessen.
Ein Katalysator für viele Ideen, die jetzt im Thurgau realisiert werden, ist das Geld aus dem Erlös des Börsengangs der Thurgauer Kantonalbank. Durch die Ausgabe von Partizipationsscheinen kamen 127 Millionen Franken in einen Topf, die als einmalige Finanzierungsquelle für unterschiedlichste kleinere und ganz grosse Projekte genutzt werden. Zu den grossen Vorhaben gehört neben dem Digital & Innovation Campus samt dem Thurgauer Institut für Digitale Transformation auch die Vision, im Thurgau Strom und Wärme mit Geothermie zu produzieren. Der Thurgau könnte so auch der Hotspot für eine neue Energie-Technologie werden.
Text: Philipp Landmark