Ein Hahn für Asklepios

Text: Louis Grosjean, Partner altrimo
399 vor Christus. Athen, durch einen 30-jährigen Krieg mit Sparta ruiniert, sieht seine demokratischen Institutionen zerschlagen. In einem politisch motivierten Prozess wird ein Mann zum Tode verurteilt: der Philosoph Sokrates. Er wird der Ablehnung der vom Staat anerkannten Götter, der Einführung neuer Gottheiten und der Korruption der Jugend beschuldigt. Wie die politischen Gegner der heutigen Schurkendemokratien wird er durch Gift zum Schweigen gebracht.
Sokrates Tod wird von seinem Schüler Platon erzählt. Platons Buch mit dem Titel «Phædo oder Von der Seele» beschreibt, was Sokrates in den letzten Stunden seines Lebens sagte. Sokrates sitzt im Gefängnis, umgeben von seinen weinenden Freunden, und ist im Begriff, das Gift mit einem Lächeln im Gesicht zu trinken. Das ist das geistige Erbe von Sokrates: So stirbt man; hier ist das, was der Nachwelt hinterlassen wird.
Leader fristen ein sehr aktives Dasein. Wir handeln, wir erschaffen, wir transformieren unsere Welt. Dann kommt der Tag, an dem unsere Einflussnahme aufhört: Ruhestand, Tod. Als Leader ist es erlaubt, sich zu fragen, was man in den letzten Stunden sagen wird: der Familie, dem Nachfolger, den Freunden oder anderen Vertrauten. Was für ein Werk, was für eine Botschaft hinterlasse ich der Nachwelt?
Der Körper, die Seele und der Hahn des Asklepios
Kommen wir auf Sokrates zurück. Kurz vor dem Tod erzählt er uns drei Dinge. Die erste Aussage: Der Philosoph sucht die Weisheit. Aber der Körper und seine unaufhörlichen Bedürfnisse stören diese Suche. Der Tod eliminiert den Körper, diesen störenden Faktor. Der Philosoph erreicht so den Zustand der Weisheit in unmittelbarer Nähe des Todes. Der Tod ist eine Befreiung, wie Sokrates sagt: «Die Philosophen freuen sich, an die Orte ihrer Hoffnung zu gehen und dem zu begegnen, was sie lieben: dem Denken.»
Zweite Aussage: Die so vom Körper befreite Seele ist unsterblich. Sie gehört zur Welt der Ideen und kann als solche nicht verschwinden. Es ist, als ob die Quintessenz des Individuums in Form einer unsterblichen Idee, der Seele, in dem Moment entkommt, wo der Körper aufhört zu funktionieren.
Die dritte Aussage entspricht den letzten, an seinen Freund Kriton gerichteten Worten Sokrates vor seinem Tod. «Kriton, wir schulden Asklepios einen Hahn. Bezahle diese Schuld, vergiss es nicht.» Asklepios war der griechische Gott der Medizin; durch ein Opfer wollte Sokrates um Vergebung bitten, dass die Medizin keine Chance erhielt, ihn zu retten. Der Hahn, Symbol des Tagesanbruchs und damit der Unsterblichkeit, war ein wohlüberlegtes Opfer. Mit diesem Opfer vollzog Sokrates einen letzten Akt der Demut vor den Göttern.
Sokrates als Unternehmer
Stellen wir uns vor, Sokrates wäre ein Unternehmer gewesen. Wie wären diese drei Aussagen ausgefallen? Ich wage den Versuch.
Die erste Aussage betrifft die Reinigung des Denkens durch das Verschwinden der körperlichen Gegebenheiten. Sokrates hätte nach der Übergabe seines Unternehmens wahrscheinlich eine selbstständige Tätigkeit ausgeübt. Befreit von der Last der zu zahlenden Löhne, der zu füllenden Auftragsbücher, hätte er seine unternehmerische Laufbahn mit einer Tätigkeit beendet, die ihm völlige Gedankenfreiheit geschenkt hätte: in der Beratung, bei der Veröffentlichung von Artikeln oder in der Philanthropie.
Die zweite Aussage postuliert die Unsterblichkeit der vom Körper befreiten Seele. Sokrates wäre es zum Zeitpunkt der Übergabe seines Unternehmens wichtig gewesen wäre, solide moralische Werte zu hinterlassen. Er hätte gewollt, dass die Idee, die Seele seiner Firma überlebt.
Schliesslich der Hahn für Asklepios … dieser Satz wurde schon oft interpretiert. Für mich liegt dessen wichtigste Bedeutung in der Demut. Sokrates ist das Gegenteil eines ehrsüchtigen Mannes. Er beugt sich den Göttern. Als Unternehmer hätte er am Ende seines Lebens vermutlich gesagt: Bis zum Schluss kannte ich meine Grenzen. Ich weiss, dass ich meinen Erfolg vor allem Anderen verdanke. Da ich mir meiner eigenen Endlichkeit bewusst bin, überlasse ich die Zukunft einer höheren Instanz.
Die Gedanken der letzten Stunde
Letztlich gehören diese Gedanken der letzten Stunden jedem Einzelnen. Sie hängen von individuellen moralischen Werten ab. Bei vielen Menschen werden der Familienfrieden, materielle Lebensgrundlagen für die nahestehenden Personen oder das Gute, das man während des Aktivlebens getan hat, prominent auf der Liste stehen.
Leader zu sein erlaubt ein hohes Mass an Einfluss auf diese Elemente, im Guten wie im Schlechten. Vielleicht dienen die Gedanken Sokrates dem Leser für die Projektion auf die letzten Stunden. Wie im Theater führt jeder sein eigenes Stück vor dem Publikum auf. Der Abgang will vorbereitet sein, damit er gelingt.