Wirtschaft

«Wir wollen nicht mehr wachsen»

«Wir wollen nicht mehr wachsen»
Karl Müller und Claudio Minder
Lesezeit: 5 Minuten

Vor genau einem Jahr haben die beiden Gesundheitsschuhmarken Kybun und Joya fusioniert. Seither wird die Thurgauer Kybun-Joya-Gruppe von Karl Müller IV. und Claudio Minder geleitet. Mit der Fusion wurde das Duo mit neuen Herausforderungen konfrontiert, die zum Hinterfragen ihrer Wachstumsstrategie geführt haben. Mit überraschendem Resultat.

Karl Müller und Claudio Minder, was ist der Unterschied zwischen Kybun und Joya?

KM: Kybun wurde von meinem Vater Karl Müller III. gegründet, nachdem er 2006 seine Firma MBT verkauft hatte. Joya hingegen ist das Kind von Claudio und mir. Wir haben Joya als Konkurrenzfirma zu Kybun aufgebaut und 15 Jahre lang geführt, bevor Kybun und Joya fusionierten. Beide Marken aber wollen Menschen schmerzfreies Gehen und Stehen ermöglichen.

CM: Joya sind lässige und bequeme Alltagsschuhe, gesund und präventiv – sie sprechen eine jüngere Zielgruppe an. Kybun hingegen ist der Pionier. Sie werden in der Schweiz hergestellt und können dank ihrer Luftkissen-Technologie Schmerzen im Bewegungsapparat lindern und so unter Umständen eine Operation verhindern.

Und wie zufrieden sind Sie mit der Firmenfusion? 

KM: Die rechtliche Fusion ist noch nicht ganz abgeschlossen. Es besteht ein Firmenkonstrukt aus über 20 Firmen und Beteiligungen im In- und Ausland. Unsere vier Aktionäre waren sich mit der Bewertung und Beteiligung aber schnell einig. So konnten wir die vergangenen zwölf Monate in einem Umfeld arbeiten, in dem wir pragmatisch entscheiden konnten und schnell vorangekommen sind. Bisher arbeiten wir sehr gut; die Verkaufszahlen sprechen für sich. Wir sind auf Kurs.

Lief wirklich alles reibungslos?

CM: Nein. Ein Teil der Mitarbeiter wollte nicht mitziehen, uns wurde eine Zwangsfusion vorgeworfen. Einige haben das Unternehmen freiwillig verlassen, andere mussten gekündigt werden, weil wir keine gemeinsame Zukunft sahen. Dies ist nun bereinigt und wir haben ein Team, das voll hinter unserer Mission steht. Obwohl sich Kybun und Joya vor der Fusion geografisch gesehen sehr nahestanden, waren die Kulturen der beiden Firmen extrem unterschiedlich. «Cultural Fit» ist für uns aber unabdingbar – diese Kulturen zu vereinen, war für uns persönlich wohl das grösste Learning aus der Fusion.

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Sie führen gemeinsam ein Unternehmen mit über 200 Mitarbeitern, das jährlich mehr als 400'000 Paar Schuhe absetzt. Wie organisieren Sie die Aufgaben untereinander?

CM: Karl und ich sind seit 15 Jahren gemeinsam als Unternehmer-Duo unterwegs. Bei Joya hat unser COO das operative Tagesgeschäft geführt. Wir hatten Zeit, um neue Projekte im Monatsrhythmus zu erschaffen: Unsere Unternehmensbiografie «The Joya Way», die Übernahme der Schweizer Traditionsmarken Kandahar und Elgg, die Übernahme und Integration des österreichischen Bequem-Schuh-Filialisten «Passt!», die Lancierung des Gesundheitsschuh-Abos – alles lief «very Elon Musk like».

KM: Mit der Fusion im Mai 2022 haben wir erst recht den Turbo gezündet. Wir wollten beweisen, dass wir die jungen, dynamischen Unternehmer sind, die wir nach aussen geben. Wir nutzten die Gunst der Stunde, um fleissig Innovationen voranzutreiben – die Schweizer Schuhproduktion, die Verjüngung der Marken und etliche Projekte, wie Claudio sie aufgezählt hat. In den vergangenen zwölf Monaten ist uns viel Gutes gelungen.

«Alle zwei bis vier Wochen eröffnet irgendwo auf der Welt ein weiterer Kybun-Joya-Shop.»

Will Kybun Joya mit diesem Tatendrang weiter expandieren?

KM: Nein. Wir kannten nur Wachstum: Wir akquirierten neue Kunden, bauten Zweigstellen auf, vergrösserten uns, lancierten neue Marken, gingen stärker in die Werbung – Sensationsmeldungen jagte Sensationsmeldung. Wir machten uns selbst grossen Druck, um parallel und in Rekordzeit Projekte abzuschliessen oder Deadlines zu erfüllen. Langfristig gesehen taten wir unserem Team damit allerdings keinen Gefallen. Wir waren naiv.

CM: Wenn Angestellte ausbrennen und wir zusehen, wie wir Monat für Monat wertvolle Mitarbeiter auf dem Weg verlieren, landen immer mehr operative Aufgaben auf unserem Tisch. Trotzdem trieben wir neue Projekte voran, obwohl uns die Manpower für deren Umsetzung fehlte. Dadurch wurden wir zum Flaschenhals im ganzen Konstrukt. Wir waren an zu vielen Fronten involviert. Schliesslich haben wir entschieden, bis auf Weiteres nichts Neues mehr anzugehen. Wir wollen kein Wachstum um jeden Preis mehr. Wir wollen und müssen unser Team schützen.

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Gar kein Wachstum: Ist das überhaupt möglich?

CM: Langfristig gesehen müssen wir wachsen – ob wir wollen oder nicht. Gott sei Dank können wir es uns aber leisten, über einen begrenzten Zeitpunkt auf zusätzlichen Absatz zu verzichten, um uns die nächsten 18 Monate auf die Entwicklung unserer Mitarbeiter, die Perfektionierung unserer Produkte und Inhalte zu konzentrieren.

Mit der Fusion wollten Sie rund 100 neue Kybun-Joya-Shops europaweit eröffnen. Tempi passati?

KM: Kein Wachstum bedeutet nicht, keinen Fokus zu haben. Wir lernen gerade, öfter Nein zu neuen Projekten zu sagen. Kybun-Joya-Shops sind nach wie vor ein klarer Fokus. Wir haben aktuell zwölf eigene Shops – fünf davon in der Schweiz – und über 30 Franchise-Shops in ganz Europa. Alle zwei bis vier Wochen eröffnet irgendwo auf dieser Welt ein weiterer Kybun-Joya-Shop. Unsere Geschäftspartner lesen die Zeichen der Zeit – sie erkennen, dass Schuhe, die eine gesunde Bewegung ermöglichen, ein viel besseres Geschäftsmodell sind als ein weiterer Schuhladen mit Produkten, die überall erhältlich und somit ersetzbar sind.

Macht es in der heutigen Zeit noch Sinn, physische Geschäfte zu eröffnen, wo Vögele, Jelmoli, Reno und Co. wegen ausstehendem Erfolg schliessen?

CM: Solche Marktveränderung verfolgen wir mit Argusaugen. Sie zeigen, dass viele Geschäfte Schwierigkeiten haben, Produkte anzubieten, die im Onlinebereich günstiger und mit einer besseren Verfügbarkeit zu bekommen sind. Wir machen bei diesem Einheitsbrei nicht mit. Mit unseren Gesundheitsschuhen wollen wir unseren Kunden einen spürbaren Mehrwert bieten. Dazu gehört, auf individuelle Anliegen von Kunden einzugehen und eine persönliche Fuss- und Ganganalyse anzubieten, damit man sieht, wie unsere Produkte funktionieren. Das Erlebnis und die Beratung stehen bei uns im Vordergrund.

KM: Während der Pandemie hat sich das Einkaufsverhalten unserer Kunden verändert. Mittlerweile machen wir rund 20 Prozent unseres Umsatzes online und gehen davon aus, dass sich dieser Anteil weiter nach oben entwickeln wird. Dieser Kanal hat somit noch grosses Potenzial für uns.

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«Wann wir die 100 Millionen-Schallmauer durchbrechen, ist eine Frage der Zeit.»

Was darf man in näherer Zukunft noch von Kybun Joya erwarten?

CM: Die nächsten Jahre wollen wir uns auf unsere Mitarbeiter fokussieren und unsere Abläufe und Prozesse verbessern. Wann wir die 100 Millionen-Umsatz-Schallmauer durchbrechen, ist eine Frage der Zeit. Bis Schweizer Krankenkassen unsere Produkte anerkennen und einen Teil der Kosten übernehmen, ist noch ein weiter Weg – in Israel ist das bereits der Fall. Dass unsere Soldaten Kampfstiefel von Elgg «Made in Switzerland» tragen, wird allerdings erst dann passieren, wenn sich die Schweizer Bevölkerung der Wichtigkeit der Grundversorgung im eigenen Land bewusst ist. Wir stehen aktuell an einem Punkt, an dem wir explizit neuen Raum schaffen müssen, um ab 2025 wieder bereit für Wachstum zu sein.

Zum Schluss: Was macht eigentlich Ihr Vater, Karl Müller?

KM: Er wird bald 71 und lebt glücklich als Selbstversorger auf seinem Bio-Hof. Dank seiner täglichen Übungen, seiner Ernährung und natürlich unseren federnd-elastischen Schuhen ist er fit und beweglich wie ein 50-jähriger. Papa ist der lebende Beweis, dass unsere Produkte halten, was sie versprechen. Wir sind wöchentlich bei ihm zum Lunch eingeladen, wo er uns frisch ab seinem Garten bekocht. Er ist dankbar, dass wir die Firma führen, dankbar um die Fusion und stolz auf den Erfolg, den wir erleben dürfen.

Text: Stephan Ziegler

Bild: Thomas Hary

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