Fokus Manufakturen in der Ostschweiz

Warum Handwerk Zukunft hat

Warum Handwerk Zukunft hat
Lesezeit: 5 Minuten

Prof. Dr. Urs Fueglistaller ist Ordinarius und Prorektor an der HSG sowie Direktor des Schweizerischen Instituts für Klein- und Mittelunternehmen an der Universität St.Gallen (KMU-HSG). Seine Forschungsschwerpunkte sind konsistente Kundenorientierung, Führungskompetenz und Ästhetik im Kontext «KMU». Er ahnt, warum Handwerk Zukunft hat – und welche Faktoren es braucht, damit ein Manufakturbetrieb erfolgreich geschäften kann.

 

Urs Fueglistaller, nicht nur die exportorientieren KMU der Ostschweiz haben Hochkonjunktur, auch kleinere Manufakturbetriebe scheinen zu boomen. Täuscht der Eindruck?
Zuerst zu Ihrem Statement «Warum Handwerk Zukunft hat»: Erstens, weil es Herkunft/Geschichte hat. Und zweitens: ChatGPT, Künstliche Intelligenz allgemein kann die Manufaktur per se nicht ersetzen, höchstens imitieren! Wenn diese Behauptung für mich nicht so wichtig wäre, würde ich sie nicht so prononciert darlegen. Das ist die grosse Chance der Manufaktur: der Mensch.
Zu Ihrer Frage nach Hochkonjunktur: Ja und nein. Zuerst nein, der Eindruck täuscht, weil viele kleine Manufakturbetriebe einen grossen Existenzkampf führen und halt leider immer noch wegen der langen Monate der Pandemie leiden. Ich habe neulich mit einem Messerhersteller gesprochen. Er hat sich auf Damast-Messer spezialisiert, wunderbare Handwerkskunst. Jedoch: Wer zahlt in unsicheren Zeiten – Inflation, Kostenzunahmen in Energie, Wohnen, Versicherung – noch 1000 Franken für ein Schneidwerkzeug? Und diesen Betrag benötigt er, weil die Arbeit für ein solches Messer intensiv ist. Wenn dieser Messerschmied auf 40 Franken pro Stunde kommt, ist das für ihn schon Weihnachten und Pfingsten zusammen. Jedoch: Sein Damast-Messer ist mir kostbar und Teil unserer Küche geworden.
Und ja, ich befürworte Ihre Beobachtung: Es ist in der Tat so, dass viele Kleinstunternehmen, die händisch ihre Produkte herstellen, gute Zeiten haben. Es hat vielleicht mit Sehnsucht der Konsumentinnen und Käufer zu tun: Feine Konfi von der Flauderei, von Hand gefertigter Gürtel, einen Ring, von dem es nur einen einzigen auf der Erde gibt, eine Brille aus Holz – das ist reines Handwerk! Und die Brille macht mir jeden Morgen, wenn ich sie aufsetze, eine kleine Freude. Auch wunderbare Uhrenkunstwerke, neue Sohlen auf meinen Lieblingsschuhen, die vom «Schuhmächerli» mit viel Können und Freude wieder neu aufgezogen wurden, die fadengebundenen Bücher mit offenem Rücken, die Möbel bei uns daheim – das ist eine reine Ode an das Handwerk, das ist die Freude an Unikaten, über die wir Geschichten erzählen können, die uns buchstäblich ans Herz gewachsen sind. Und so wie uns geht es zahlreichen anderen auch. Also ja, Herkunft hat Zukunft. Ist das zu viel der Glorifizierung der Manufaktur? Nein, denn es geht um das «Ans-Herz-G’wachsene»: Lieblingsbücher, -Besteck, -Stuhl, -Brot – alles ist Manufaktur, keine Massenware.

 

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«Viele Kleinstunternehmen, die händisch ihre Produkte herstellen, haben gute Zeiten.»

Urs Fueglistaller
Urs Fueglistaller

Worauf führen Sie dies zurück, hat es eventuell mit Corona zu tun?
Lassen Sie mich vorab etwas klarstellen: Wie man aus den obigen Aussagen leicht erahnen kann, bin ich ein Fan von Manufaktur-Produkten. Wichtig dabei ist aber: Ich brauche gleichzeitig auch industrialisierte Dienstleistungen und Produkte. Beides muss sein. Und Ihr Eindruck täuscht nicht: Es gibt in unserem Zeitbewusstsein so etwas wie «vor Corona – nach Corona». Viele Menschen haben sich dabei auf handwerkliche, wertvolle Artefakte fokussiert. Und dabei muss es nicht gleich die oben genannten tausend Stutz kosten. Kleine Dinge wurden wertvoll: Eine handgestrickte Kappe für winterliche Zeiten, ein «Chriesi-Chössi», feine Sirups, eingemachte Quitten … Ich könnte hier wohl eine ganz grosse Liste anbringen. 

Was sind für Sie die Erfolgsfaktoren, die darüber entscheiden, ob ein Manufakturbetrieb auf dem Markt reüssieren kann oder eben nicht?
Es gibt dazu eine Formel: Funktionalität x Ästhetik = Erfolg. Wenn ein Produkt oder eine Dienstleistung nur funktional ist, ohne eine sinnliche Art des Designs, dann hat das wenig mit Handwerk denn mit reiner Zweckorientiertheit zu tun. Versuchen Sie das nächste Mal, wenn Sie in der Kathedrale St.Gallen einem Konzert beiwohnen, die gesamte Barockhandwerkskunst und alle Wandmalerei wegzudenken: nur noch Funktionalität. Ich behaupte nun etwas mutig, dass Sie ohne diese wunderbare Ästhetik nicht mehr in die Stiftskirche pilgern
würden.

Bei handgefertigten Werken geht es vor allem um die Verbindung des Werks mit dem Menschen, der das Werk betrachtet, nutzt, erwirbt.
Absolut, es geht um Emotionen und Bewusstsein. Kurzes Experiment: Haben Sie ein Lieblingsbuch? Was ist der Grund, was hat Sie beim Lesen berührt? Oder: Wie gehen Sie mit feinen Holzarbeiten um? Ich ertappe mich manchmal dabei, wie ich über die Oberfläche des Rüstbretts vom hiesigen Schreiner mit meinen Fingerkuppen gleite; das sind die kleinen Momente des Glücks. Es geht dabei um psychologische Sicherheit, das Gefühl haben zu dürfen, dass man sich mit dem Werk wohl fühlt, sicher fühlt, einig ist, halt, dass es gewissermassen ein Teil von mir ist. Das ist jedoch erst die eine Seite der Erfolgsfaktoren. Es braucht auch das Gespür für den Zeitgeist: Was wird in Zukunft nachgefragt, was ist dann in einem Jahr womöglich ein Hype? Und von zentraler Bedeutung ist: Wie und mit welchen Mitteln manifestieren wir unsere Manufaktur-Produkte auf dem Markt?

 

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«Es geht im Leben nicht nur ums ‹Umsatzbolzen›, sondern auch um das Experimentieren.»

Oft machen auch Menschen ihr Hobby zum Beruf, in dem sie – als Beispiele – Langspielplatten pressen oder Sneakers designen. Wie beurteilen Sie die Chancen von Betrieben, die so entstanden sind?
Aus der Freude heraus ein Unternehmen langsam werden zu lassen, das fasziniert mich. Neudeutsch nennt man dies in der Unternehmertumsforschung «side business»: Man hat einen Job und beginnt daneben, in der Freizeit zu tüfteln. Manch’ wunderbares Bier ist so entstanden! Das Tüfteln ist Teil des Menschen. Es geht im Leben nicht nur ums «Umsatzbolzen», sondern auch um das Experimentieren. Die Unternehmertumsforschung hat diese Kraft der Dualität schon lange erkannt und nennt sie «Ambiguität»: Wertschöpfung, Geld verdienen, Umsatz auf der einen Seite und zugleich die Freude am Ungewissen, am Experimentieren, einfach mal drauflos. Das beglückt mich sehr als Beobachter von KMU – wenn ich erkenne, dass beides im Unternehmen Platz haben darf. 

Es macht den Eindruck, als ob Handwerk nicht nur Zukunft, sondern auch goldenen Boden hat – Fachleute sind gesucht wie nie. Würden Sie demzufolge jungen Menschen heute eher zur Lehre oder zur akademischen Ausbildung raten?
Beides! Wir haben in der Schweiz ein unglaubliches Erfolgsmodell: duales Bildungssystem und Durchlässigkeit fürs Studium. Unsere beiden Söhne haben zuerst eine Lehre absolviert, Berufsmatura während der Lehre, danach Bachelorstudium, mit 30 Jahren nun – jobbegleitend – Masterstudium. Wie cool ist das denn? Lebenslanges Lernen ist Realität, ist unser Erfolgsfaktor, nicht einfach dahergeschwafeltes Schlagwort – und «wär häts erfunde?» Die Schweiz! 

«Funktionalität × Ästhetik = Erfolg.»

Der St.Galler Bildungsdirektor Stefan Kölliker will die Maturitätsquote anheben. Wäre nicht vielmehr eine Senkung angebracht, damit wieder mehr junge Menschen handwerkliche Berufe ergreifen?
Zufälligerweise habe ich mit Herrn Kölliker darüber sprechen können. Und ich bin gleicher Meinung wie er: Es gibt in der Ostschweiz so viele junge Menschen, die nun wirklich für eine Matura geeignet sind. Handwerk und Matura schliessen sich nicht aus – ich wiederhole mich. 

Gut, aber was könnten Handwerksbetriebe besser machen, damit sich wieder mehr junge Leute für den Beruf interessieren?
Schauen wir uns einmal die Gastro-Szene an: Da geht es auch um Handwerk. Kundinnen und Kunden zu bedienen, ihnen von den Lippen die Wünsche abzulesen, gute Qualität und Performance zu liefern: alles Themen der Manufaktur. Spannend finde ich als Beobachter, dass manche Hotels und Restaurants sehr viele Anfragen für Lehrstellen haben – und andere null. Das hat mit der Kultur, Nachhaltigkeit, Marktorientiertheit des Unternehmens zu tun. Handwerksbetriebe müssen gegenüber der Jugend immer attraktiv bleiben. Ist ein Betrieb mit lauter Silberrücken attraktiv für junge Menschen?

 

Text: Stephan Ziegler

Bild: Thomas Hary

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