Ostschweiz

«Lustlos, verträumt oder psychisch belastet?»

«Lustlos, verträumt oder psychisch belastet?»
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Was belastet die Lernenden von heute? Wie häufig sind psychische Auffälligkeiten bei Lernenden? Wie können Ausbildungsverantwortliche darauf reagieren und wo erhalten sie Unterstützung? Mit solchen Fragen setzte sich am Mittwoch die Fachtagung «Lustlos, verträumt oder psychisch belastet» auseinander, zu der das Forum BGM Ostschweiz nach St.Gallen einlud.

Moderiert wurde die Tagung vom Fernsehmann Marco Fritsche. Ein Farbtupfer der besonderen Art lieferte der St.Galler Illustrator Jonathan Németh, der Inhalte der Tagung in Zeichnungen festhielt, deren Entstehung auf einem Screen mitverfolgt werden konnte.

Karin Faisst und Marco Fritsche
Karin Faisst und Marco Fritsche

Zahlen der IV-Beziehenden unter 30 Jahren explodieren

Barbara Schmocker und Niklas Baer vom Kompetenzzentrum Psychiatrie Basel-Land präsentierten im Pfalzkeller vor über 200 Tagungsteilnehmenden die Resultate einer im Frühjahr 2021 bei Berufsbildungsverantwortlichen durchgeführten Umfrage über die psychischen Probleme bei Lernenden. Diese zeigte auf, dass männliche Lernende mit mehr Einschränkungen und ungünstigeren Bewältigungsstrategien aufwarteten. Insgesamt seien psychische Probleme während der Lehre sehr häufig.

«Es gibt heute dreimal so viele IV-Rentnerinnen und -rentner unter 30 Jahren wie vor 25 Jahren. Dies ist eine stetige Entwicklung – obwohl heute nicht mehr Junge krank sind als früher», so Niklas Baer. Laut Barbara Schmocker führten insbesondere die Suchtproblematik und psychosoziale Belastungen dazu, dass Lernende ihre Lehre abbrechen. Allerdings gebe es auch Indikatoren, die es wahrscheinlich machten, dass Lernende ihre Ausbildungszeit erfolgreich abschlössen.

«Gute Freunde und die aktive Ausübung eines Hobbys, zum Beispiel in einem Verein, schützen einen davor, die Lehre abzubrechen», so Schmocker. Auch die Berufsbildungsverantwortlichen fühlten sich «am unsichersten», wenn ihre Lernenden unter Suchtproblemen und psychischen Problemen litten. «Das bleibt ein Thema, auch wenn man schon 20 Jahre im Beruf tätig ist», erklärte Schmocker.

Generell, so kommt die Befragung, die von 6'365 Personen zumindest teilweise beantwortet wurde, zum Schluss, weisen junge Männer mit Schwierigkeiten in der Lehre vor allem Funktionsdefizite bezüglich Pünktlichkeit, Minimalismus und Selbstorganisation auf.

Junge Frauen hätten hingegen oft Angst vor Fehlern, litten unter Stimmungsschwankungen und hätten Mühe, Berufliches von Privatem zu trennen. Lernende bekämen oft Probleme, wenn ihre Berufsbildungsverantwortlichen wenig Verständnis für ihre persönlichen Probleme zeigten und sie wenig sinnvolle Arbeiten verrichten müssten.

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Marco Fritsche und Jonathan Nemeth
Marco Fritsche und Jonathan Nemeth

Lernende wollen ernstgenommen werden

Nicole Borra, Sozialberaterin am Gewerblichen Berufs- und Weiterbildungszentrum St.Gallen, forderte die Berufsbildungsverantwortlichen dazu auf, die Lernenden ernst zu nehmen und ihnen authentisch gegenüberzutreten. Dazu gehöre, dass man sie auch ihre eigenen Erfahrungen machen lasse. Denn nur wer ausprobieren könne, ohne gleich gemassregelt zu werden, lerne auch Frustrationen auszuhalten und mit den verschiedensten Erwartungen umzugehen.

Auch Karin Faisst, Präsidentin des Forum BGM Ostschweiz, sah hierin eines der Hauptprobleme: «Ich glaube, dass es wichtig ist, zu verstehen, dass vieles in dieser Frage mit dem Betriebsklima, mit der Führung im Betrieb zu tun hat».

Für Andreas Keller, bei der Wiler «Camion Transport» fürs Lehrlingsmanagement zuständig, ist klar: «Die heutige Jugend ist kostbar. Sie ist unsere Zukunft und wir als Ausbildungsbetrieb sind ihr gegenüber verpflichtet».

Entsprechend habe die Firma Ansprechpersonen bezüglich Coachings, Konfliktmanagement und Gesundheitsfragen ausgebildet. Und reiche dies nicht, so könnten Lernende «externe Vertrauenspersonen hinzuziehen», so Monika Friedl, Leiterin Betriebliches Gesundheitsmanagement und Care Management bei «Camion Transport».

Die Gesundheit Lernender ist ein Wettbewerbsvorteil

Mireille Félix, Key-Account Managerin bei der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz, hielt fest, dass über 40 Prozent der 16- bis 24jährigen zu wenig Ressourcen hätten, um den Belastungen am Arbeitsplatz gerecht zu werden. Und über 30 Prozent dieser Altersgruppe seien «emotional erschöpft», was zum doppelt so hohen Berufsunfallrisiko führe wie bei den übrigen Angestellten.

«Ein Betrieb, der sich um die Gesundheit von Lernenden kümmert, hat einen Wettbewerbsvorteil», so Félix. Wenn es psychisch nicht mehr dafür reicht, eine Lehre zu Ende zu bringen oder gar erst damit anzufangen, so können Jugendliche auf die Unterstützung der Invalidenversicherung (IV) zählen.

Wie Selina Moser, Teamleiterin IV-Berufsberatung bei der Sozialversicherungsanstalt St. Gallen, darlegte, könne die IV nicht erst während einer Ausbildung, sondern schon davor und auch danach die Heranwachsenden in ihren Bemühungen unterstützen, eine Invalidität zu verhindern und die berufliche Eingliederung zu stärken. «Wenn immer möglich im ersten Arbeitsmarkt», so Moser.

Die Massnahmen reichen von einer Früherfassungsmeldung über eine spezialisierte Berufsberatung, einem Jobcoaching während der Ausbildung im ersten Arbeitsmarkt bis hin zur Arbeitsvermittlung nach der erstmaligen beruflichen Ausbildung für ein halbes Jahr. Ziel ihrer Behörde sei es nach wie vor «noch mehr Möglichkeiten schaffen, um die Eingliederung in der freien Wirtschaft und nicht im geschützten Raum zu fördern», sagte Moser.

Die berufliche Integration könne aber nur gelingen, wenn «engagierte Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber soziale Verantwortung zeigen und diese wichtige Aufgabe übernehmen», so Moser.

Achi Brunnschweiler, Coach und Berater für Positive Leadership, ermunterte zu guter Letzt alle Ausbildungsverantwortlichen dazu, viel Zeit in die heranwachsenden Lernenden zu investieren. «Jugendliche wachsen heute in einer komplexen, schwierigen Welt auf. Wir können ihnen Halt geben und somit als Ausbildner wertvoll sein!».

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