Fat Tails
Text: Alessandro Sgro, Chief Investment Officer Cronberg AG
Anleger investieren in die verschiedensten Vermögenswerte. Instinktiv denken wir an Aktien, Obligationen, Gold oder Immobilien. Die Gesetze des Vermögensaufbaus lassen sich jedoch auf viele weitere Gebiete übertragen. Beispielsweise gilt Ernst Beyeler als einer der bekanntesten und erfolgreichsten Kunsthändler des 20. Jahrhunderts.
Ursprünglich als Buchhändler tätig, begann Beyeler nach und nach Kunst in seinem Laden auszustellen. Über die Jahre hinweg wurden seine Ausstellungen umfangreicher, sein Netzwerk in der Kunstszene breiter und damit einhergehend sein Vermögen grösser. Bis zu seinem Tod im Jahr 2010 wird sein Vermögen auf rund 2 bis 3 Milliarden Schweizer Franken geschätzt.
Ist das Vermächtnis von Ernst Beyeler nun das Ergebnis grandiosem Fachwissen oder vielleicht doch einfach Glück? Die Antwort auf diese Frage lautet – so einfach es auch klingt – Diversifikation und Zeit. Der Modus Operandi vieler Kunsthändler ist der Einkauf einer grossen Vielzahl an Werken, die sie in der Folge für einen langen Zeitraum halten.
Während sich auch bei Ernst Beyeler der absolute Grossteil seiner Investitionen nicht als profitabel herausstellte, bestand der restliche Anteil seines «Kunst-Portfolios» unter anderem aus Werken seines langjährigen Freunds Pablo Picasso. Diese Werke sprachen ein breites Publikum an und erwiesen sich letztlich als äussert wertvoll. Voraussehbar war das nicht. Es sind also die aussergewöhnlich selten vorkommenden Extremereignisse, die sich als stark vermögenssteigernd herausstellten.
Extreme prägen die Welt
Was hat der Handel von ästhetischen Malereien oder Skulpturen mit dem Handel von Wertpapieren von Unternehmen zu tun? Die mathematischen Grundprinzipien, denen beide Märkte unterliegen, sind dieselben. In der Statistik spricht man von sogenannten «Fat Tails», was die Eigenschaft einer Wahrscheinlichkeitsverteilung beschreibt, dass Ereignisse mit extremen Ausprägungen, die in einer Normalverteilung als sehr unwahrscheinlich gelten würden, häufiger auftreten können.
Doch dies als eine Abweichung von der Normalverteilung zu bezeichnen, scheint insofern fraglich, als dass die gesamte Weltwirtschaft von Extremereignissen getrieben wird.
Nehmen wir die Erfindung des Telefons als Beispiel. Zur gleichen Zeit waren diverse Innovationen im Bereich der Kommunikation im Umlauf. Doch nur die Erfindung von Alexander Graham Bell war es, welche sich entscheidend durchsetzen konnte und unsere Kommunikation bis heute nachhaltig geprägt hat.
Weiter gibt es auch ganze Branchen, die sich das Auftreten von Extremen zunutze gemacht haben. Versicherungen werden beispielsweise dafür bezahlt, dass sie den Versicherten das Risiko von negativen Extremereignissen abnehmen. Risikokapitalgeber auf der anderen Seite wollen von positiven Extremereignissen profitieren, indem sie Geld in Start-ups investieren, von welchen sich nur ein Bruchteil auf dem Markt etablieren werden.
Auch an den Finanzmärkten treten Extremereignisse auf. Im Jahr 2018 verdoppelte Amazon seinen Börsenwert und war damit allein für sechs Prozentpunkte des Wachstums des breiten amerikanischen Aktienindex S&P 500 verantwortlich. Die Verdoppelung des Börsenwerts eines Unternehmens ist bereits ein Extremereignis an sich. Das Wachstum verdankte Amazon hauptsächlich den Erfolgen von Amazon Prime und Amazon Web Services, also zwei von hunderten Projekten, die von Amazon in diesem Zeitraum lanciert wurden.
Ein jüngeres Beispiel ist Nvidia, das vom KI-Hype nach der Veröffentlichung von Chat-GPT profitiert und seither seinen Börsenwert mehr als vervierfacht hat.
Risiken mindern, Chancen erhöhen
Fat Tails bedeuten an den Finanzmärkten allerdings nicht nur die Chance auf potenziell hohe Gewinne, sondern im gleichen Masse auch hohe Verluste. Extremereignisse können das Vermögen positiv wie negativ beeinflussen.
Doch wie bei Ernst Beyeler liegt der Schlüssel zum langfristigen Anlageerfolg in der breiten Diversifikation – also der Auswahl einer grossen Anzahl an Wertschriften. Durch die Streuung von Investitionen über verschiedene Anlageklassen und innerhalb der Anlageklassen auf verschiedene Titel können Verluste in einem Bereich durch Gewinne in einem anderen Bereich ausgeglichen werden. Ferner erhöht sich die Chance, um von den positiven Extremereignissen zu profitieren.
Dieses Prinzip ist auch Warren Buffett – einem der erfolgreichsten Anleger – sehr bewusst. An einer Aktionärsversammlung erzählte er, dass er im Laufe der Zeit bereits an 400 bis 500 Unternehmen Anteile erworben, das meiste Geld aber mit zehn von ihnen verdient hätte. Je breiter diversifiziert ein Portfolio also ist, desto grösser ist die Chance, dass sich auch einmal ein Picasso darin befindet.