Wirtschaft

Dem Administrationsinfarkt vorbeugen

Dem Administrationsinfarkt vorbeugen
Lukas Scherer
Lesezeit: 6 Minuten

Aktuelle Schätzungen aus Forschungsarbeiten zeigen, dass bis 60 Prozent der Arbeitszeit in KMU kontraproduktiv seien – etwa, weil steigende Anforderungen von externen Stellen die Prozesse beeinflussen oder weil die Technisierung zu «unsichtbaren Aufgaben» führe. Lukas Scherer, Professor und Leiter des OST-Instituts für Organisation und Leadership, weiss um die Auswirkungen der Bürokratie auf Unternehmen – und was man dagegen tun kann.

Text: Stephan Ziegler

Lukas Scherer, 82 Prozent der von Ihnen befragten Unternehmen finden, dass Bürokratie ihre Arbeitseffizienz erheblich beeinträchtigt. Diesen Wert kann man als katastrophal betiteln, oder?
Häufig wird Bürokratie negativ verstanden. Leerlauf, Doppelspurigkeit, sinnlose oder unverständliche Prozesse und aufgeblasene Rollen, Dienst nach Vorschrift, Umständlichkeit und Papierkram fallen in diesem Zusammenhang. All das lässt den Schluss auf eine Beeinträchtigung der Arbeitseffizienz zu. Bürokratie darf allerdings nicht nur so gesehen werden. Der deutscher Organisationssoziologe Max Weber verband durchaus Vorteile mit Bürokratie als Organisationsform: Klare Hierarchie und Arbeitsteilung, formale, transparente Regeln und Verfahren, Spezialisierung und Schaffung von Expertise und schlussendlich Objektivitäts- und Gerechtigkeitsprinzipien sind auch Einflussfaktoren, die zu Stabilität, Kontinuität und Prozesssicherheit führen. Damit schafft Bürokratie Effizienz und Produktivität. Die befragten Unternehmen sahen aber v. a. die negativen Auswirkungen.

Welche Hauptfaktoren tragen zu dieser Wahrnehmung bei?
Spricht man von Bürokratie, so müssen wir die Aussen- und Innensicht mitdenken. Bei der Aussensicht können wir Regelwerke und Rahmenbedingungen im Umfeld der Unternehmen betrachten. Regulatoren, Gesetzgeber und Marktplayer auf nationaler und internationaler Ebene definieren die Regeln. Die EU in Brüssel, der Bund in Bern, der Kanton, ja die Gemeinden sowie Verbandsstrukturen, öffentliche Institutionen und Monopolplayer stehen unter Generalverdacht, die Bürokratie zu befeuern. Zudem entsteht Bürokratie im Unternehmen selbst. Im Innenverhältnis werden bei einem grösseren oder auch wachsenden Unternehmen die Rufe nach im Hause geltenden Spielregeln und Strukturen laut. Firmenweite Vorlagen, Checklisten und Prozeduren werden entwickelt; Kompetenz- und. Unterschriftenregeln entstehen. Ursprünglich gedacht, um durch einheitliche Standards Produktivitätssprünge zu schaffen, «kippt» aber das System irgendwann. Vieles wird schwerfällig, mühsam und beschwerlich – und alle sehnen sich wieder nach Freiheit und innovativem Denken und Handeln.

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Welche Massnahmen könnten Unternehmen ergreifen, um die negativen Auswirkungen der Bürokratie zu minimieren?
Aus meiner Warte beginnt es im Mindset aller Mitarbeiter. Alle, angefangen auf C-Level bis zum «Frischling», müssen sich auf das Warum zurückbesinnen! Warum braucht es uns als Unternehmen? Warum wollen Kunden und Partner mit uns zusammenarbeiten? Welchen Zweck erfüllen wir als Organisation? Wenn wir die Fragen nach dem Zweck, nach dem «Purpose» beantworten, dann können wir Prioritäten setzen, Strukturen, Governance und Compliance-Regeln proaktiv hinterfragen. Damit schaffen wir auch eine agile Unternehmenskultur, die alle Angestellten befähigt und in die Pflicht nimmt. Die Mitarbeiter erhalten Handlungsfreiräume. Gleichzeitig fordert man Verantwortung für ihre Entscheidungen und Handlungen ein.

Auf Neudeutsch «Enabling und Empowerment» sollen im Zentrum stehen?
Genau. Wir schaffen Hierarchien ab. Interne Prozesse und Verfahren werden in Zusammenarbeit mit allen Schlüsselpartnern, v. a. den Kunden, hinterfragt und entschlackt. Die Kommunikation, u. a. der individuelle Beitrag bei der Erreichung des Unternehmenszweckes, schafft Transparenz und stufengerechte Information. Die Definition und die Erfassung relevanter Daten und in der Folge die Digitalisierung sowie die digitale Transformation werden durchgängig angepackt. Die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz als «Turbo» dieser Transformation werden aus Kunden- und Prozesssicht für die Kernbereiche des Unternehmens identifiziert und aufgegleist.

«Einen ‹goldenen Weg› oder gar den ‹Weg der Glückseligkeit› wird es kaum geben.»

Dies ist aber mit Investitionen in Technologie und Changemanagement verbunden.
Ja. Schlussendlich muss sich jedes Unternehmen fragen, ob es wirklich alles und jedes selbst entwickeln und schaffen will. Die Stärkung der Zusammenarbeit über die gesamte Lieferkette bis zum Kunden bietet Ansatzpunkte für die Entschlackung von Prozessstufen, Schaffung von Synergien, organisationales Lernen. Und diejenigen Organisationen, die sich den politischen Veränderungen nicht ergeben wollen, wirken proaktiv bei der Entwicklung der nationalen und internationalen Normen mit.

Wie können Unternehmen einen gesunden Mittelweg zwischen notwendiger Struktur und übermässiger (eigener) Bürokratie finden?
Einen «goldenen Weg» oder gar den «Weg der Glückseligkeit» wird es kaum geben. Jedes Unternehmen muss ihn für sich finden. Auch ist er als Marathon zu verstehen. Dennoch möchte ich einige Tipps nennen, um dem Administrationsinfarkt vorzubeugen:

  • Jeder muss wissen, warum, wie und was das Unternehmen erreichen will und wie der individuelle Mehrwert aussieht. Der Fokus wird auf Outcome gelegt. Input ist wichtig; entscheidend ist aber, was herauskommt.
  • Alle Prozesse können auf Wirksamkeit hinterfragt werden.
  • Die Rolle der Führungskräfte ist zu entwickeln, weg vom «Kontrolleur» hin zum «Enabler», «Coach» und «dienenden Leader», der seine Mitarbeitende fördert und fordert.
  • «Strukturelles Empowerment» gewinnt. Alle Mitarbeiter werden aktiv in die Prozessoptimierung und -vereinfachung einbezogen. Kritisches Hinterfragen aller Prozesse wird gefördert.
  • Informationen stehen stufengerecht in Echtzeit zu Verfügung. Feedback und Co-Creation mit Kunden und Partnern wird genutzt.
  • Unnötiges Selbstmachen und Selbstentwicklung weichen der «Open Innovation» sowie «Zusammenarbeit und Allianzbildung mit Schlüsselpartnern».

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Im OST-Symposium «Administrations-Infarkt – Raus aus der Bürokratiefalle» wurde die STOPP-Formel vorgestellt. Könnten Sie erläutern, wie jede Komponente dieser Formel konkret zur Verringerung von Bürokratie beiträgt?

  • Das «S» steht für «saubere Digitalisierung». Künstliche Intelligenz und die damit mögliche Neugestaltung aller Prozesse sowie Entwicklung neuer Geschäftsmodelle werden genutzt. Dies setzt voraus, dass das Unternehmen digitale Fähigkeiten «sauber» beherrscht.
  • Das «T» greift Transparenz auf. Daten, das «Öl von morgen», werden über Information und Aufbereitung zu Wissen, wenn sie valide, stufengerecht und zeitnahe verfügbar sind.
  • «O» greift den Aspekt der Optimierung der Kommunikation auf. Im Zeitalter der Datenflut ist es existenziell, den Mitarbeitern und Usern alle relevanten Informationen für ihre Arbeit zur Verfügung zu stellen. Austausch, Feedback sowie Lernen aus den Erfahrungen aller setzt auf durchgängigen Dialog.
  • Die beiden «P» stehen für Prozessbeherrschung und Partizipation. Alle Prozesse müssen in den Dienst des Unternehmenszweckes gestellt werden. Prozesse, die keinen Kundennutzen stiften, werden auf den Prüfstand gestellt. Mitarbeiterpartizipation garantiert, dass nichts vergessen geht und die Prozesse laufend weiterentwickelt werden.

Nun sind es ja meist nicht die KMU, die sich selbst verbürokratisieren; meist ist es der Staat, der zum Bürokratie-Overkill beiträgt. Warum werden immer mehr Regularien und Vorschriften eingeführt?
Hier öffnet sich tatsächlich die Büchse der Pandora. Der Staat und suprastaatliche Organisationen wie die EU oder die OECD streben eigene Entwicklungen an. In der Hoffnung, dass ihre Bürger, ihre Mitglieder besser geschützt werden oder besondere Vorteile erhalten, geben sie sich selbst und/oder schaffen auch für aussenstehende Regelwerke und Vorschriften. Unabhängig von den Gründen müssen wir davon ausgehen, dass es mehr und nicht weniger Richtlinien, Verordnungen, Gesetze, Weisungen, Vorschriften und nicht zu vergessen Interpretationen und Gerichtsurteile geben wird. Will ein Unternehmen gerüstet bleiben, bieten sich die Optionen «Change it!», «Love it!» und «Leave it!». Die dritte bleibt aussen vor; ein Opting-out kommt nicht infrage. «Love it» bedeutet, dass das Unternehmen die Spielregeln akzeptieren muss. Die Option «Change it» bedeutet, dass das Unternehmen sich dem politischen Prozess stellt, sich selbst politisch einbringt oder die «Lobbying-Arbeit» Dritten überträgt.

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«Ich bin mir sicher, dass alle Politiker, zumindest vor ihrer Wahl, sich dem Kampf gegen Bürokratie stellen wollen.»

Praktisch jeder Politiker schreibt sich im Wahlkampf den «Kampf gegen die Bürokratie» auf die Fahne; trotzdem wächst sie ungebremst. Warum tut nicht wirklich jemand etwas gegen die Bürokratie?
Als Kantonsrat im Kanton Appenzell setze auch ich mich für KMU, deren Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit ein. Politische Zielsetzungen sind vielschichtig, komplex, teils sogar widersprüchlich. Optimale unternehmerische Rahmenbedingungen, Flexibilisierung sowie das Mitdenken aller Anspruchsgruppen verlangen nach Kompromissen. Ich bin mir sicher, dass alle Politiker, zumindest vor ihrer Wahl, sich dem Kampf gegen Bürokratie stellen wollen. Der Wähler muss sich aber bewusst sein, dass die politische Arbeit eigenen Spielregeln folgt und durch eine gewisse Trägheit geprägt ist. Voraussetzungen des bürokratischen Abbaus sind politische Mehrheiten, öffentliche Unterstützung, mediale Aufarbeitung sowie die internationalen Entwicklungen. Der «politische Wille» ist zwar oft gegeben; ob schlussendlich «das politische Fleisch» die nötige Kraft und Durchhaltevermögen aufweist, bleibt abzuwarten.

Avenir Suisse hat kürzlich das Konzept einer «Löschwoche» erarbeitet: Jedes Jahr soll eine Sessionswoche ausschliesslich dafür genutzt werden, unnötige und überflüssige Bestimmungen loszuwerden. Ein gangbarer Weg?
Es könnte ein gangbarer Weg sein, um bürokratische Belastungen zu reduzieren und die Effizienz des Rechtssystems zu steigern. Nützt dieser «Frühlingsputz» nichts, so hat man zumindest nichts verloren. Ganz im Gegenteil, unsere Vertreter im Parlament müssen einerseits ihr Wissen aktualisieren und sich austauschen. Andererseits kann sich das Wahlvolk von der Leistungsfähigkeit ihrer Vertretung überzeugen.

Text: : Stephan Ziegler

Bild: Marlies Beeler-Thurnheer

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