Wirtschaft

«St.Gallen trifft auch beim Mittelstand nicht»

«St.Gallen trifft auch beim Mittelstand nicht»
Lesezeit: 7 Minuten

Gemäss einer aktuellen Studie des St.Galler Hauseigentümerverbands HEV hat der Kanton bei der Standortqualität gegenüber anderen Landesteilen stark an Terrain verloren. SP, Grüne und der Mieterverband kritisierten die Studie umgehend und bezeichneten sie unter anderem als «aus der Zeit gefallen». Macht der HEV Politik von gestern?

Nachdem sich der HEV Kanton St.Gallen bereits in zwei Vernehmlassungsverfahren (Revision des kantonalen Richtplans 2016 und der Gesamtverkehrsstrategie 2017) kritisch darüber geäussert hat, ob die kantonalen Leitplanken punkto Raumentwicklung und Verkehrspolitik in die richtige Richtung weisen würden, hat er in der «Studie Wohnstandort Kanton St.Gallen» (April 2021) untersucht, inwieweit die damals geäusserten Bedenken und Hinweise Bestand haben. Gemäss den Studienergebnissen steht es in vielen Belangen noch schlechter, als der HEV bislang befürchtet hatte. Vor allem müssen die Erreichbarkeit verbessert, die verfügbaren Entwicklungsflächen ausgebaut und die steuerlichen Rahmenbedingungen optimiert werden.

Das sehen SP, Grüne und der Mieterverband anders und kritisieren die Studie heftig. HEV-Geschäftsführer Remo Daguati hält nicht viel von dieser Kritik.

«In der Stadt St.Gallen sind die Steuern der vierthäufigste Wegzugsgrund.»

Remo Daguati, von linker Seite hiess es unter anderem, dass Ihre Studie «aus der Zeit gefallen» sei. Gerade die Erfahrungen der Pandemie würden zeigen, dass es dank Homeoffice und Videokonferenzen zumindest im Dienstleistungsbereich Alternativen zum Arbeitspendeln gebe. Das ist doch nicht falsch, oder?
Wir haben die Auswirkungen von Covid in der Studie ebenfalls sachlich beleuchtet. Wie gross der Effekt der Pandemie auf die Pendlerströme sein wird, ist bis heute noch offen. Sicher ist, dass der motorisierte Individualverkehr ein wichtiger Verkehrsträger bleibt. Dieser wird immer ökologischer und dank intelligenter Fahrassistenz-Systeme noch sicherer. Für kurze Distanzen hat während der Pandemie das Velo zulasten des Fussverkehrs deutlich zugelegt, da spielt auch der Effekt der Elektrobikes. Grosser Verlierer war der öffentliche Verkehr.

Der öV hat vor allem wegen der Homeoffice-Pflicht verloren. Aber Homeoffice wird immer beliebter – nicht nur bei den Arbeitnehmern.
Das ist richtig und Homeoffice wird auch wichtig bleiben. Aber machen wir uns nichts vor: Menschen werden auch in Zukunft bei der Arbeit zusammentreffen wollen, damit Ideen für erfolgreiche Geschäftsfelder im Team und im persönlichen Austausch entstehen. Gerade für eine Wirtschaftsregion wie St.Gallen mit starkem Produktionssektor ist Homeoffice nicht immer eine Alternative. Eine Präzisionsmaschine lässt sich nicht von zuhause aus aufbauen.

Die SP lehnt einen Ausbau des Individualverkehrs konsequent ab. Dieser sei nicht die Mobilität der Zukunft.
Links-grüne Kreise spielen die Verkehrsträger immer gegeneinander aus, anstatt sie intelligent zu kombinieren. Wir sollten die besten Verkehrsträger für die zu bewältigende Strecke und den entsprechenden Reisezweck kombinieren. Ich habe seit Kurzem eine PV-Anlage auf unserem Hausdach und lade meine Fahrzeuge selber, clevere Assistenzsysteme schützen hoffentlich vor Unfällen, mein Kleinstwagen braucht wenig Platz. Technologische Entwicklungssprünge werden uns weiter bringen, wohl aber kaum ein kategorisches Ausbremsen des wichtigsten Verkehrsträgers für unsere Erreichbarkeit durch die Linken.

Was mich schmunzeln lässt: Ausgerechnet die SP-Vertreter im St.Galler Stadtrat haben die Entwicklung des städtischen öV komplett verschlafen. Die städtische S-Bahn ist ein Desaster, Busse behindern sich gegenseitig an allen Kreuzungen, alles weicht auf Auto, Velo oder Fussverkehr aus. Wir brauchen Gesamtverkehrslösungen, die heute und in Zukunft funktionieren!

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«Bei wesentlichen Wachstumsfaktoren schneiden wir schlechter ab.»

Thomas Schwager, Geschäftsleiter des Mieterverbands, sagte, dass St.Gallen nicht mit sechsspurigen Autobahnen und neuen Bauzonen für Einfamilienhäuser glänzen müsse. Liegt er falsch?
Die Studie stellt die Erreichbarkeit des Kantons St.Gallen ohne ideologische Scheuklappen über alle Verkehrsträger dar, immer im Vergleich zu anderen Wirtschaftsregionen. Egal ob Bahn, Bus oder Auto: Die Ostschweiz wurde von anderen Landesteilen punkto Fahrzeiten deutlich abgehängt. Und: Wir haben viel zu kleine Siedlungsreserven – egal ob für Einfamilienhäuser, Mehrfamilienhäuser für Familien oder Arbeitsplatzzonen. Das wirkt sich direkt und negativ auf das Wachstum bei Jobs und Einwohnern aus.

Schwager kritisiert auch, dass die Steuerattraktivität nur für Topverdiener interessant sei. Für Normalverdiener seien bei der Wohnortwahl andere Überlegungen entscheidender, etwa das Bildungs- oder Freizeitangebot oder Kindertagesstätten. Interessiert sich der HEV nicht für «die kleinen Leute»?
Unsere Mitglieder stammen aus verschiedensten Bevölkerungs- und Einkommensschichten. Hauptfaktoren bei der Standortwahl sind Erreichbarkeit, Jobchancen und Bildungsmöglichkeiten. Steuern sind zwar kein Differenzierungsmerkmal, aber eben ein wichtiger Hygienefaktor. In der Stadt St.Gallen sind gerade die Steuern der vierthäufigste Wegzugsgrund.

Und wer im Steuerbereich nicht punktet, verliert Unternehmen …
Genau. Und damit letztendlich auch Jobs für uns alle. Und bei aller Sozialromantik: 25 Prozent der Steuereinnahmen stammen in der Schweiz von einem Prozent der vermögendsten Personen, die Top-10-Prozent bezahlt über 50 Prozent der Steuern. Diese Personen sind mobil bei ihrer Standortwahl. Doch es geht uns gerade nicht nur um die Reichen.

Sondern?
St.Gallen trifft auch beim Mittelstand nicht ins Tor! Während dem in den meisten Gemeinden der Nachbarkantone die Steuerbelastung für einen Referenzhaushalt «Verheirateter Alleinverdiener mit zwei Kindern» zwischen 2010 und 2018 gesunken ist, hat sich die Steuerbelastung in praktisch allen St.Galler Gemeinden erhöht. Insgesamt präsentiert sich die mittlere Steuerbelastung über alle Einkommens- klassen hinweg, sowohl bei Familien wie bei Ledigen, im Kanton St.Gallen als vergleichsweise hoch.

 

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Von Grüner Seite hiess es, dass die notwendigen Flächen für Arbeits- und Wohnzonen über den ganzen Kanton gesehen vorhanden wären. Und dies sogar in weit grösserem Umfang, als Bedarf vorhanden sei. Warum kommt der HEV in seiner Studie zu einem anderen Ergebnis?
Für die Dimensionierung der Bauzonen hatte der Kanton ein eigenes Berechnungsmodell entwickelt, das wir stark kritisierten. Das in unserer Studie verwendete Prospektivmodell basiert auch auf Marktdaten und rechnet für den gleichen Zeitraum mit einem leicht höheren Bevölkerungswachstum. Gemäss dieser Berechnung zur Siedlungsgebietsdimensionierung haben im Jahr 2017 insgesamt nur zwölf Gemeinden im Kanton St.Gallen zu hohe Reserven aufgewiesen, vornehmlich im Toggenburg. Demgegenüber weist die überwiegende Mehrheit teils deutlich zu kleine Siedlungsreserven auf. Dies trifft insbesondere auf Gemeinden in den Wahlkreisen Wil, St.Gallen und Rorschach sowie auf einzelne Gemeinden in den Wahlkreisen Sarganserland, Werdenberg und Rheintal zu. Wir könnten mehr von der Entwicklung profitieren, als wir zulassen.

Die Forderung des Hauseigentümerverbands entspreche «dem raumplanerischen Denken von gestern und vorgestern», wurde weiter kritisiert. Ist der HEV stehengeblieben?
Eine kantonale Flächenpotenzialanalyse hat ergeben, dass die sofort verfügbaren und auch als marktfähig geltenden Flächen lediglich sechs Prozent aller Arbeitsplatzpotenziale ausmachen und sich seit 2011 mehr als halbiert haben. Nur geringe Anteile der vorhandenen Arbeitsplatzpotenziale erfüllen Qualitäten, um Standortanforderung für wissensintensive Dienstleistungsunternehmen, Unternehmensfunktionen oder Präzisionstechnologien gerecht zu werden.

Es läuft also noch vieles falsch in der Raumentwicklung und der Standortförderung?
Ja. Und deshalb überrascht es auch kaum, dass sich seit Jahren keine namhaften Firmen mehr bei uns ansiedeln. Oder können Sie mir ein Beispiel nennen?

Spontan fällt mir keines ein …
Eben. Dass der Kanton St.Gallen im Vergleich zu anderen Landesteilen im Verteilspiel um die Siedlungsreserven ausgebootet wurde, rächt sich immer mehr. Die von uns als «gross» empfundenen Entwicklungsareale sind im Vergleich zu den Flächen in anderen Landesteilen gerade mal Kleinstgebiete.

 

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Gemäss SP gibt es aber klare Aufträge der Bevölkerung, das Siedlungsgebiet nicht ständig weiter auszudehnen. Es soll vielmehr verdichteter gebaut werden. Warum schlägt der HEV dennoch vor, das Siedlungsgebiet auszubauen? Ist ihm der Auftrag der Bevölkerung egal?
Wir plädieren doch nicht für einen grenzenlosen Ausbau des Siedlungsgebiets! Verdichtung, Teilsanierung, Umnutzung und Neuüberbauung sind ein Weg, es braucht aber auch gezielte Umzonungen oder wo nötig Erweiterungen. Die Studie zeigt auf, dass die überwiegende Mehrheit der St.Galler Gemeinden zu kleine und teils deutlich zu kleine Siedlungsreserven aufweist. Wir müssen Antworten finden, woran dies liegt und wieso andere Landesteile erfolgreicher im Bereitstellen von Flächenreserven sind. Zudem mag ich die Doppelzüngigkeit links-grüner Kreise nicht mehr hören.

Doppelzüngigkeit?
Eine Pensionskasse macht in meinem Quartier ihre Liegenschaften rollstuhlgängig, saniert die Altliegenschaft energetisch komplett und erstellt vorbildliche Grundrisse für zeitgemässes Wohnen. Der Wortführer der Linken fordert nun den Stadtrat auf, er müsse diese «Gentrifizierung» – also die Aufwertung der Liegenschaft und des Quartiers – stoppen. Wenn der Heimat- oder Naturschutz nicht zieht, dann sucht man halt einfach neue Argumente zum Verhindern.

Links-Grün kritisiert auch, dass der Fokus der Studie viel zu einseitig, zu bürgerlich sei.
Wir haben die Fakten durch ein in Raumplanungsfragen unabhängiges Büro zusammentragen lassen. Fakten und Zahlen, welche die Regierung jeweils ausblendete, wenn sie wie aktuell ihren Richtplan revidiert oder ihre Gesamtverkehrsstrategien überarbeitet. Wir haben dabei allseitig über die Grenzen geschaut, die Verbindungen nach Zürich wie Vorarlberg oder Chur genauso betrachtet wie die interregionalen Pendlerströme. Der Kanton St.Gallen hat gegenüber den anderen Landesteilen in den letzten Jahren noch mehr an Terrain verloren – bei wesentlichen Wachstumsfaktoren schneiden wir schlechter ab.

Das heisst?
Das durchschnittliche Reineinkommen liegt im Kanton St.Gallen mit rund CHF 78 000 deutlich unter dem Schweizer Mittel von rund CHF 87 700. Zudem hat sich dieser Unterschied seit 2009 vergrössert. Das betrifft letztendlich alle gesellschaftlichen Schichten. Im Steuerbereich rutschen wir Richtung Tabellenende, die Siedlungsreserven sind im Vergleich zu anderen Regionen unterdurchschnittlich oder zu klein. Das lässt sich auch mit aktivem Standortmarketing nicht zukleistern. Ein Verharren und Säugen an den Ausgleichtöpfen des NFA scheint leider behaglicher, als das Schicksal des Standorts mutig und unabhängig zu prägen.

Die HEV-Studie zum Wohnstandort St.Gallen finden Sie unter hev-sg.ch/studie-wohnstandort

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IHK: «Ergebnisse treffen in weiten Teilen zu»

Die IHK St.Gallen-Appenzell begrüsst es gemäss Chefökonom Alessandro Sgro sehr, dass der HEV die Entwicklungsmöglichkeiten und die Standortattraktivität mit einer Studie untersuchen liess. «Mit den abgeleiteten Handlungsfeldern werden einige Projekte aus unserer Zukunftsagenda ‹Softurbane Ostschweiz› aufgenommen», so Sgro. Die Erkenntnisse der Studie seien also nicht neu, würden aber in weiten Teilen zutreffen. «Gerade im Bereich der Erreichbarkeit respektive in der Sicherstellung einer leistungsfähigen Verkehrsinfrastruktur sind 14 Projekte bei uns auf der Agenda. Das zeigt das Ausmass der Handlungsfelder. Sie betreffen sowohl den öffentlichen Verkehr als auch den motorisierten Individualverkehr.»

 Die Kritik von links-grüner Seite und dem Mieterverband lässt die IHK nicht gelten. «Wir sind in vielen Punkten mit den Resultaten der Studie einig», erklärt Alessandro Sgro. «Seit der Erstellung unserer Zukunfts- agenda im Jahr 2018 versuchen wir aber, nicht nur jeweils eine Momentaufnahme zu machen und den Status quo zu kritisieren, sondern vorausschauend über verschiedene Stellen frühzeitig Impulse im politischen und planerischen Prozess zu setzen – ganz im Sinne einer zukunftsgerichteten, positiven wirtschaftlichen Entwicklung der Kernregion Ostschweiz.

Text: Patrick Stämpfli

Bild: Marlies Thurnheer

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