Thales: der praktische Nutzen der Philosophie

Text: Louis Grosjean (Bild), Partner altrimo
Milet, Griechenland, um 630 vor Christus. Die abendländische Philosophie wird geboren. Ihr erster Vertreter, Thales, kommt an der ionischen Küste zur Welt. Er gilt als der erste dieser weisen Menschen, die ihre Welt hinterfragt und vor ihr gestaunt haben.
Damals waren Philosophen auch Wissenschaftler: Mathematiker, Astronomen, Physiker, Ökonomen und vieles mehr. Thales war ein solches Multitalent. Er beobachtete den Himmel und leitete allerlei Erkenntnisse aus seinen Beobachtungen ab. Eines Tages, als er beim Spazieren über ein kniffliges Problem nachdachte, stolperte er in ein Loch. Neben ihm stand eine junge Frau: «Du beobachtest den Himmel, aber du bist nicht fähig, das Loch vor deinen Füssen zu sehen. Was nützt dir die ganze Philosophie?» Dieser Spott löst bei Thales eine Trotzreaktion aus: Er schickte sich an zu beweisen, dass seine Studien einen praktischen Nutzen erzeugen.
Rohstoff-Termingeschäft
Seine Himmel-Beobachtungen in jenem Winter liessen ihn voraussagen, die nächste Olivenernte werde ausserordentlich ertragreich. Also mietete Thales alle Ölpressen Kleinasiens, die er finden konnte, auf Termin. Als die Ernte tatsächlich üppig ausfiel, wollten alle Zugang zu den Ölpressen. Thales bestimmte den Preis für die Untervermietung und machte einen riesigen Gewinn. «Es ist leicht für Philosophen, reich zu werden; auch wenn es nicht das ist, womit sie sich ernsthaft beschäftigen.» So soll Thales seinen Erfolg kommentiert haben.
Thales ist mir nicht wegen der Spekulation und auch nicht wegen seines etwas überheblichen Kommentars sympathisch. Das Interessante an dieser Geschichte ist, dass Thales einen Bezug zwischen seiner philosophischen Tätigkeit und dem Alltag machte. Er praktizierte nicht «l’art pour l’art» im Elfenbeinturm einer geschlossenen Akademie, sondern nutzte sein intellektuelles Vermögen auf praktischer Art und Weise.
Natürlich hätte man nach heutigen moralischen Massstäben gewünscht, dass Thales den erzielten Gewinn für einen wohltätigen Zweck gespendet oder dass er seine Erkenntnisse aus der Astronomie für die flächendeckende Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktion genutzt hätte. Solche lobenswerten Taten sind allerdings nicht überliefert.
Zeit, Musse und gut durchdachte Ziele
Was lernen wir aus Thales’ Geschichte? Erstens: Nachdenken lohnt sich. Der Plan, aufgrund astronomischer Beobachtungen die Ölpressen an der ionischen Küste auf Termin zu mieten und dann später zu vermieten, muss erst einmal erdacht werden. Dazu braucht es Vorstellungsvermögen, Zeit und Musse. Ich leite für mich Folgendes ab: Strategische Entscheide treffe ich nicht an einem Tag. Ich lasse mir Zeit, wenn es immer geht. Das ist die erste Lektion.Zweitens hat Thales klar durchgedacht, was sein Ziel war: Die philosophische Erkenntnis und der Beweis, dass sie einen praktischen Nutzen hat. Der Vermögensgewinn war lediglich sein Mittel dazu. Es war nicht sein Ziel. Darin liegt Stoff zum Nachdenken: Was bedeutet für mich als Leader der wirtschaftliche Erfolg? Ist er Selbstzweck oder Mittel zu einem anderen Ziel? Oder ein bisschen beides?