Das Gebot der Stunde heisst Entstaatlichung
Text: Kurt Weigelt
Dies gelesen: «Europa ist nur noch ein Zuschauer». (Wolodimir Selenski am WEF, Quelle: www.blick.ch)
Das gedacht: Selenski fordert ein starkes Europa. Dagegen gibt es nichts einzuwenden. Selenski übersieht allerdings, dass militärische Stärke nicht gratis zu haben ist. Ohne eine erfolgreiche Wirtschaft läuft nichts. Und diesbezüglich sieht es für Europa alles andere als hoffnungsvoll aus.
62 der 100 teuersten Unternehmen haben ihren Sitz in den USA. Noch einseitiger sieht es an der Spitze der Rangliste aus. Kein einziges europäisches Unternehmen schafft es unter die weltweiten Top 10. Neun der zehn wertvollsten Konzerne kommen aus den Vereinigten Staaten.
Mit drei Unternehmen ist die Schweiz ist in dieser Rangliste gut vertreten. Gleich wie Deutschland. Noch bemerkenswerter: Im Verhältnis zur Einwohnerzahl gibt es in der Schweiz fast doppelt so viele Top 100-Unternehmen wie in den USA.
Allerdings, wie das übrige Europa verlieren auch die grossen Drei der Schweiz an relativer Bedeutung. Im Jahre 2007, vor der weltweiten Finanzkrise, hatten 46 der 100 wertvollsten Unternehmen der Welt ihren Sitz in Europa. Heute sind es noch 18.
Europa hat den Anschluss verpasst
Roche, Nestlé und Novartis haben etwas gemeinsam. Gegründet wurden diese Unternehmen im 19. Jahrhundert. Sie sind Kinder des Fortschrittsglaubens und der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung der Gründerzeit.
Nicht anders sieht es im übrigen Europa aus. Es gibt kein einziges EU-Unternehmen mit einer Marktkapitalisierung von über 100 Milliarden Franken, das in den letzten 50 Jahren von Grund auf neu gegründet wurde. Der Grund dafür ist offensichtlich. Europa spielt im Digitalsektor im Allgemeinen und beim Thema KI im Besonderen eine untergeordnete Rolle
Die fünf wertvollsten Unternehmen der Welt sind allesamt US-Techfirmen und jünger als 50 Jahre. Europa hat den Anschluss verpasst. Die Gründe für diesen Niedergang sind vielschichtig. Vier politische Fehlentwicklungen spielen eine entscheidende Rolle:
1 Umverteilung
Die von Schumpeter mit dem Begriff der schöpferischen Zerstörung beschriebenen wirtschaftlichen Erneuerungsprozesse finden in Europa nicht wirklich statt. Es fehlen Unternehmerpersönlichkeiten, die ihre Visionen wie Elon Musk oder Jeff Bezos unbeirrt und gegen alle Widerstände in die Tat umsetzen. Dies nicht zuletzt als Folge einer politischen Kultur, die sich einer falsch verstandenen Gleichheit verschrieben hat. Im Fokus der politischen Auseinandersetzung steht nicht die Chancengleichheit, sondern die Gleichheit der Lebensumstände, die Gleichmacherei.
Dazu gehören die nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip erhobenen progressiven Steuern und die Finanzierung von Sozialleistungen durch die Umverteilung der Einkommen. Das bestverdienende ein Prozent der Steuerpflichtigen zahlt knapp ein Viertel der gesamten Einkommenssteuer. Etwas weniger als die Hälfte der Schweizer Familien bezahlt keine direkte Bundessteuer. Bei der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) sind die Erwerbseinkommen unbegrenzt beitragspflichtig, die Rente jedoch plafoniert. Leistung wird bestraft.
2 Wohlfahrtsstaat
Institutionell widerspiegelt sich diese Entwicklung im galoppierenden Ausbau des Wohlfahrtsstaats. Seit 1990 haben sich die Sozialausgaben des Bundes mehr als verfünffacht. Heute geben Bund, Kantone und Gemeinden 40 Prozent der zur Verfügung stehenden Gelder für die soziale Sicherheit aus.
In den meisten westlichen Staaten wird rund die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts durch die öffentliche Hand ausgegeben. Dies gilt in der Tendenz auch für die Schweiz. Korrigiert man die Angaben in den offiziellen Statistiken um sämtliche Ausgaben, die aufgrund von staatlichen Vorgaben geleistet werden müssen, dann kommt auch die Schweiz auf eine Staatsquote von gegen 50 Prozent.
Für jedes persönliche und gesellschaftliche Problem fordert das Stimmvolk eine staatliche und vor allem staatlich finanzierte Lösung. Und stösst damit bei der Politik auf offene Ohren. Auch im bürgerlichen Lager. Politische Probleme werden nicht gelöst, sondern ausfinanziert. Koste es, was es wolle.
3 Überregulierung
Das Schweizer Landesrecht umfasste im Jahre 2020 über 37'000 Seiten. Es wuchs seit 2004 um 46 Prozent. Der Mehrwertsteuer-Kommentar benötigt 1309 Seiten, um den Steuerpflichtigen zu erklären, was richtig und was falsch ist. Zur Konkretisierung des Lebensmittelgesetzes braucht es vier Verordnungen des Bundesrats, 23 Verordnungen des Eidgenössischen Departements des Innern sowie drei Verordnungen des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen.
Und dabei sind wir im Vergleich mit der EU recht schlank unterwegs. Eine aktuelle Studie des Forschungsnetzwerks Cesifo zeigt, dass es in den letzten Jahren in der EU in Bereichen wie Datenschutz, Konsumentensicherheit, Lieferketten und Kartellrecht zu einer massiven Überregulierung gekommen ist. Unternehmen in den USA entwickeln die Künstliche Intelligenz, die EU reguliert sie. Auf Kosten von Wettbewerb und Wachstum.
4 Arbeitsmarkt
Ein weiterer Bremsklotz der Erneuerungsdynamik liegt im staatlich regulierten Arbeitsmarkt. In Zeiten des technologischen Wandels müssen Unternehmen in der Lage sein, ihre Strukturen und Kosten schnell an die Marktentwicklung anzupassen. In den USA kostet eine umfassende Umstrukturierung in einem grossen Unternehmen zwei bis vier Monatsgehälter pro betroffenen Arbeitnehmer. In Frankreich belaufen sich die Kosten im Durchschnitt auf 24 Monatslöhne, in Deutschland auf 30. Die Umstrukturierungskosten in Westeuropa sind zehnmal höher als in den USA.
Auch in der Schweiz ist der liberale Arbeitsmarkt mehr Mythos als Realität. Vor zwanzig Jahren waren in der Schweiz rund 350’000 Arbeitnehmende einem als allgemein verbindlich erklärten Arbeitsvertrag unterstellt. Heute sind es deutlich über eine Million Beschäftigte. Sekundiert von zahnlosen Arbeitgeberorganisationen haben es die Gewerkschaften verstanden, die bei Einführung der Personenfreizügigkeit als Missbrauchsgesetzgebung verabschiedeten flankierenden Massnahmen zu einer umfassenden Arbeitsmarktpolizei auszubauen.
Anmassung von Wissen
Die Bevölkerung Europas verhält sich wie reiche Erben. Man optimiert sein persönliches Wohlbefinden und konsumiert die von den Vorfahren erarbeiteten Errungenschaften. Obwohl in vielfacher Hinsicht besser unterwegs als die meisten EU-Staaten, gilt dies auch für die Schweiz. Ohne die Rückbesinnung auf die wesentlichen Aspekte einer unternehmerischen Gesellschaft verlieren wir den Anschluss an die weltweite wirtschaftliche Entwicklung.
Europa befindet sich im Würgegriff von Zentralverwaltung und Planwirtschaft. Regierungen und Parlamente diktieren, wie wir uns zu verhalten haben, wohin die Reise geht und welche Ziele wann erreicht werden müssen. Eine Anmassung von Wissen, die zum Scheitern verurteilt ist. Will man Zukunft, muss man akzeptieren, dass diese unberechenbar ist.
Raum für Unvorhergesehenes
Fortschritt kann seiner Natur nach nicht geplant werden . Die Entwicklung der Zivilisation ist, so Friedrich August von Hayek, das Ergebnis menschlichen Handelns und nicht das Ergebnis eines menschlichen Entwurfs. Wer die ganze Gesellschaft zu einer einzigen Organisation macht, die nach einem einzelnen Plan entworfen und geleitet wird, zerstört die Kraft der individuellen menschlichen Vernunft. Der Entwicklungsprozess verliert seinen experimentellen Charakter. Es bleibt kein Raum für Unvorhergesehenes und Unvoraussagbares.
Der Interventionsstaat ist nicht die Lösung, sondern das Problem. Die Herausforderungen der digitalen Gesellschaft lassen sich weder mit dem Ausbau der öffentlichen Verwaltung noch mit staatlich finanzierten Programmen bewältigen. Der Weg in eine erfolgreiche Zukunft führt über mehr persönliche und unternehmerische Freiheit. Und weniger Staat. Das Gebot der Stunde heisst Entstaatlichung.