KI ist ein mächtiges Werkzeug
Die Künstliche Intelligenz hat bereits in viele Bereiche unseres Alltags und unserer Arbeitswelt eingegriffen. Viele weitere Anwendungen werden folgen, diese Technologie ist unbestrittenermassen ein Gamechanger. Weil so vieles gleichzeitig läuft und weil vielerorts schon heute eine KI ganz unspektakulär mitarbeitet, ist es einigermassen schwierig, das tatsächliche wirtschaftliche Potenzial dieser Technologie zu erfassen.
«Es gibt täglich eine neue Studie», sagt Guido Schuster, Professor für Digitale Signal-/Bildverarbeitung und Künstliche Intelligenz an der OST – Ostschweizer Fachhochschule in Rapperswil. «Es werden die wildesten Zahlen präsentiert, doch jede Zahl ist geraten. Auch die Studienautoren wissen nicht, wie gross das KI-Potenzial für die Wirtschaft wirklich ist.»
Für Guido Schuster ist allerdings klar, dass der Impact gewaltig ist, «weil KI überall sein wird und vor allem unsere Effizienz erhöht.» Für den Leiter des Instituts für angewandte Künstliche Intelligenz der OST steht deshalb ausser Frage, dass das Bruttosozialprodukt im nächsten Jahrzehnt um «viele Prozent» gesteigert werde. «Die relevantere Frage ist: Wer holt denn diese Benefits ab? Das Schlimmste wäre, dass es nur fünf amerikanische Grossfirmen sind», gibt Schuster zu bedenken. Das beste Szenario wäre für ihn, dass alle Menschen von KI profitieren. Guido Schuster denkt bei KI nicht nur an zukünftige Einsatzmöglichkeiten: «Im täglichen Leben ist KI schon omnipräsent, und wir setzen KI durchaus sinnvoll ein.»
Menschen sind nicht dumm
Fragt man Guido Schuster nach den Gefahren von Künstlicher Intelligenz, macht er einen Vergleich: «KI ist ein mächtiges Werkzeug, das so breit einsetzbar ist wie Elektrizität.» Also kommt es da wie dort auf den Kontext an – mit Elektrizität kann man sowohl einen elektrischen Stuhl als auch eine Herz-Kreislauf-Maschine betreiben. «Es gibt eigentlich kein Gebiet, in dem man Künstliche Intelligenz nicht einsetzen kann – genau wie Strom.» Eine Welt ohne Strom kann man sich heute kaum mehr vorstellen, auch wenn es während der längsten Zeit der Menschheitsgeschichte genauso war. Gängige Horrorvisionen, dass die Maschinen bald über die Menschen bestimmen, entlocken dem Wissenschaftler ein müdes Lächeln. «Wir sind sehr weit weg davon, das macht auch wenig Sinn.» Auf der Erde gebe es genug Atomwaffen, um sie fünfzigmal zu zerstören, das sind für Guido Schuster echte Probleme. KI in vernünftigen Dimensionen angewandt sei ein Softwareinstrument, das Menschen effizienter macht. «Wir sind nicht so dumm, das Regeln eines Atomkraftwerks vollständig einer KI zu überlassen», sagt Guido Schuster. «Alle Horrorvisionen gehen jedoch immer von einer unendlich dummen Menschheit aus.»
Alles passiert schneller und effizienter
Am Standort Rapperswil der Fachhochschule OST ist Guido Schuster definitiv nicht mit dummen Menschen umgeben, sondern mit Wissenschaftlern und Studenten, die in der künstlichen Intelligenz Chancen sehen und Lösungen entwickeln.
Die KI hat beispielsweise längst die Software-Entwicklung verändert: «Moderne KI-Modelle schreiben gute Software», sagt Guido Schuster. Deshalb werde heute das, was früher traditionell ein Junior-Programmierer gemacht hat, heute von der KI erledigt. «Es braucht aber immer noch die Seniors, um die Software zu designen und um die KI zu kontrollieren.»
Beim Einsatz von KI geht es vor allem um eines: Effizienz. Vieles, was wir tun, wird sehr viel schneller und sehr viel effizienter. «KI ist für den Geist, was ein Velo für den Körper ist», erklärt Guido Schuster. «Wer ein Velo hat, kommt mit der gleichen Energie viel weiter. Und wer von einer KI-Engine unterstützt wird, kommt mit seinem Intellekt viel weiter.» Die KI ist selbst aber ziellos, der Mensch muss das Ziel formulieren. «Man muss eine KI gut einsetzen, dass man tatsächlich effizient und schnell ans Ziel kommt.»
Maschine mit Bauchgefühl
Was heute als KI bezeichnet wird, ist im Wesentlichen maschinelles Lernen. Guido Schuster verweist auf ein heute schon gängiges Beispiel: Im Service- und Support-Bereich eines Unternehmens werden Hunderte von ähnlichen E-Mails geschrieben. Lässt man die Maschine analysieren, was als Anfrage hereinkommt und wie die Antwort darauf lautet, kann sie daraus lernen. «Wenn genügend Beispiele von Anfragen und Antworten vorliegen, dann kann die KI Antworten auf eingehende E-Mails vorschlagen.»
Die Intuition, die eine KI mit der Zeit entwickelt, basiert auf Daten, und diese Daten basieren immer auf der Vergangenheit. «Auch Menschen könnten die Zukunft nicht einbeziehen», sagt Schuster. Das Bauchgefühl eines Menschen, was als Nächstes passieren könnte, sei vergleichbar mit einer Datenabfrage. «Der Mensch nutzt Erfahrungswerte.» Gegenüber der Maschine hat der Mensch allerdings einen zusätzlichen Vorteil: «Wir haben eine Viertelmillion Jahre Evolutionsgeschichte in den Genen. Wir fangen nicht bei null an, wenn wir auf die Welt kommen.»
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Jeder kann Software erstellen
Welche Effekte die KI auf mittellange Sicht habe, sei schwierig zu sagen. «Wenn die KI weiterhin so produktivitätserhöhend ist wie heute, dann werden in zehn Jahren auch viele Nicht-Ingenieure die Möglichkeit haben, sich selbst Software zu erstellen.» Die Ingenieurs-Kunst werde zugänglicher werden, vermutet der Professor einer Ingenieurs-Schmiede. «Heute muss man viele Jahre studiert haben, bis man etwas bauen kann, die Eintrittsbarriere ist hoch. Das wird in Zukunft einfacher werden, die Werkzeuge werden uns viel mehr Möglichkeiten zur Verfügung stellen.»
Eine gewisse kreative Fantasie, warum man überhaupt eine Maschine wünschen könnte, braucht es auch dann. Und eben doch etwas Know-how: «Am Schluss vom Tag ist es immer hilfreich, zu wissen, was sie tun. Wenn Sie einem Junior einen Auftrag geben, müssen Sie die Fähigkeit haben, seine Arbeit zu beurteilen.»
Alle Werkzeuge, die heute täglich gebraucht werden, alles, was auf einem Handy läuft, alles, was auf Cloud-Servern läuft, wird künftig KI-unterstützt sein – wenn es das nicht heute schon ist. Oft wenden wir KI unbewusst an: «Das nächste YouTube-Video, das ihnen vorgeschlagen wird, kommt aus der Verhaltensanalyse mit KI. Und wenn Whatsapp beim Schreiben Wörter vorschlägt, ist das KI», sagt Guido Schuster. «Wenn wir KI nun aktiver im Arbeitsleben einsetzen wollen, dann müssen wir uns mehr damit auseinandersetzen. Es ist ein mächtiges Werkzeug, man muss es erlernen.»
Effizienter arbeiten
Guido Schuster geht nicht davon aus, dass bald jeder seine individuelle KI-Maschine baut, um ein Problem zu lösen. Aber die gängigen Werkzeuge in der Arbeitswelt werden mit KI-Agenten ausgestattet, der die Menschen bei der Arbeit unterstützt. Das Ziel ist immer dasselbe: Die Nutzer werden viel effizienter.
«Jedes Jahr muss jede Firma ein Budget machen, das ist jedes Mal ein grosser Aufwand, und Menschen machen das oft ziemlich schlecht», sagt Guido Schuster. Viele der Firmen nutzen dabei eine Software wie SAP. «Eine KI könnte auf sämtliche Daten aus der SAP-Geschichte des Unternehmens zugreifen und einen ersten Wurf des Budgets schreiben, garantiert besser, als wenn es die Buchhalter machen.» Mit den Daten aus der Vergangenheit fehlen der KI natürlich Angaben über neue Projekte und andere budgetrelevante Entscheide, diese Informationen können dann Menschen ins Budget einpflegen. Wer seinen Geschäftsbericht mit ChatGPT schreibt und dazu vertrauliche Daten hochlädt, handelt allerdings fahrlässig. «ChatGPT ist eine Website wie Google, sobald man da etwas hochlädt, gibt man diese Informationen der Öffentlichkeit preis.» Es gebe deshalb die Möglichkeit, lokale KI-Modelle laufen lassen. «Wenn SAP einen KI-Agenten aufschaltet, gibt das Unternehmen die Daten kaum an die Konkurrenz weiter.»
Smalltalk mit Alfred
Wie vielfältig sich KI einsetzen lässt, zeigen Anwendungsbeispiele, die an der OST entwickelt wurden. Im Labor von Guido Schuster entstand ein VR Flugsimulator für Helikopter, der um ein Vielfaches besser und gleichzeitig um ein Vielfaches günstiger ist als herkömmliche Lösungen. Auch die benachbarten Eishockeyprofis der Rapperswil-Jona Lakers profitieren mit KI-gestützten Trainingsmethoden vom Know-how der OST (siehe folgende Artikel).
Ein schönes Beispiel für die Einsatzmöglichkeiten von KI ist auch «Alfred», ein KI-basierter Gesprächspartner für Senioren. Dieses Tool wurde von zwei Studenten des MAS Human Computer Interaction Design entwickelt, inzwischen haben sie dafür ein Start-up unter dem Namen Altertainement gegründet.
«Im Rahmen ihrer Masterarbeit haben die Studenten einen KI-Sprachassistenten entwickelt», sagt Guido Schuster. Alte Menschen können nun mit der KI sprechen, die hört zu, stellt Fragen, es entstehen ganze Konversationen. Wenn ältere Menschen ein Smartphone bekommen und eine App bedienen sollten, bekunden sie oft Mühe. «Wenn ein Telefon klingelt, nehmen sie ab und sprechen.»
Die Herausforderung für die Studenten war, ein User-Interface zu konstruieren, das mit einer reinen Sprachsteuerung läuft. Im Hintergrund läuft bei Alfred eine aktuelle Version von ChatGPT. Die Maschine als Gesprächspartner hat unendlich Geduld, erinnert sich an alles, was die Seniorin oder der Senior früher gesagt hat, sie stellt kluge Fragen. So entstehen interessante Gespräche: «Wir haben in einem Altersheim beobachtet, dass sich eine Frau während 18 Minuten mit Alfred unterhalten hat.»
Doch gibt es allenfalls ethische Bedenken, wenn Senioren von einer Maschine unterhalten werden? Für Guido Schuster stellt sich die Frage, was die Alternative zum Einsatz von KI ist. «Wenn stattdessen die Tochter zu Besuch käme, ist die KI keine gute Sache. Wenn die Seniorin ganz allein in ihrem Zimmer sitzt und sich langweilt, dann ist die KI eine sehr gute Sache.» Selbstverständlich werde gegenüber den Senioren deklariert, dass es sich bei Alfred um eine KI-Anwendung handle. «Das ist den Leuten aber nach etwa 30 Sekunden komplett egal.»
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Zu wenige Gründer
Nach dem Geschmack von Guido Schuster gibt es im Umfeld der OST noch zu wenige Spin-offs, die sich als Start-up versuchen. Er sieht darin ein generelles Problem der Schweiz: «Hier haben viele Angst vor einer Unternehmensgründung. Ich habe lange in den USA gelebt, da hat man eine andere Einstellung zum Risiko als in der Schweiz.» Es fehle nicht an cleveren Ideen, schwierig sei es, Leute zu finden, die das Risiko einer Firmengründung eingehen wollen.
Wenn an einer Institution an einer Idee geforscht wird, die sich umsetzen liesse und ein Spin-off zur Option wird, dann stellt sich eines Tages die Frage, wem das bisher erarbeitete Know-how eigentlich gehört. «Die OST arbeitet gerade an einem Spin-off-Reglement», sagt Guido Schuster, und fügt an: «Grundsätzlich will man ja, dass Spin-offs erfolgreich sind. Also gibt man in ähnlichen Umgebungen einem Spin-off normalerweise zehn Jahre lang gratis Zugriff auf alles.» Wenn ein Unternehmen nach zehn Jahren noch lebe und Geld verdiene, dann fange es an, für das damalige Know-how etwas zurückzuzahlen. «Solche Lösungen sind eigentlich recht vernünftig», meint Guido Schuster, «weil das Sicherste, um ein Start-up zu killen, ist am Anfang zu grosse Gebühren zu verlangen. Dann verlieren alle gleichzeitig.»
Besser wäre tatsächlich, wenn die Ideen aus der OST zum Fliegen kommen. So wie Loft Dynamics mit seinen Flugsimulatoren: Das Unternehmen ist eine grosse Erfolgsstory.
Text: Philipp Landmark
Bild: Marlies Beeler Thurnheer