Die Effizienz-Maschine
Science-Fiction-Fantasien waren schon immer interessante Vorhersagen technologischer Neuerungen – nur dauerten die Entwicklungen meistens länger als vermutet. Dafür war dann die Realität oft besser als die Fiktion. Dass es nach der Einführung von Funkgeräten möglich sein sollte, die Telefonie mobiler zu machen, lag auf der Hand. Die ersten Mobiltelefone hatten allerdings das Gewicht und das Format eines kleinen Reisekoffers – kein Wunder, hiess das Gerät in der Schweiz Natel, was sich von «Nationales Autotelefon» ableitete. Dass die Geräte im Zuge der technologischen Entwicklung immer kleiner wurden, war auch vorhersehbar. Aber wer ahnte, dass die handlichen Dinger die Leistungsfähigkeit von Computern haben und rasch zur Universalfernsteuerung des eigenen Lebens werden? Auf dem Handy in der Westentasche ist schon längst Realität, was uns als technologischen Quantensprung in Atem hält: Viele Apps arbeiten ganz selbstverständlich mit Künstlicher Intelligenz, während wir an Symposien und Kaffeekränzchen über die Chancen und Risiken von KI debattieren.
In diesem Schwerpunkt kommen zwei ausgewiesene Ostschweizer KI-Experten zu Wort, Professor Siegfried Handschuh von der HSG und Professor Guido Schuster von der OST. Naturgemäss sehen sie in der Technologie, die für sie alles andere als neu ist, vor allem Chancen. Das Risiko ist, wenn schon, nicht die Technologie, sondern der Mensch.
70 Jahre bis zum Boom
Der Begriff Künstliche Intelligenz kursiert seit über einer Generation in Wissenschaftskreisen, als Geburtsstunde gilt eine Konferenz an der Elite-Uni Dartmouth College in New Hampshire, an der 1956 ein Research Project on Artificial Intelligence gestartet wurde. Es sollten freilich viele Jahre ins Land ziehen, bis 2015 das Unternehmen OpenAI gegründet wurde, das kurz darauf sein erstes Sprachmodell vorstellte. Mehrere Versionen folgten, das 2022 vorgestellte Modell, das unter dem Namen ChatGPT bekannt wurde, konnte Texte übersetzen, Fragen beantworten oder E-Mails formulieren – und war vor allem so einfach zu bedienen, dass auch Laien sich darauf stürzten. Der KI-Boom war losgetreten. Seither befürchten Skeptiker, dass eben doch eines Tages die Maschinen die Regentschaft auf der Erde übernehmen und die Menschen zum Teufel jagen. Vielmehr aber beschäftigen sich Menschen damit, wo sie in ihrem eigenen Berufsalltag KI sinnvoll einsetzen könnten. Der Technologie wird insbesondere eine Eigenschaft zugeschrieben: Sie macht Prozesse effizienter, und das mehr oder weniger überall. Wer clever ist, nutzt dieses Potenzial. KI kann auf unendlich mehr Wissen als ein Mensch zugreifen, und das im Handumdrehen. Eine KI-Abfrage könnte bei merkwürdigen Symptomen auf eine seltene Krankheit verweisen, von der viele Mediziner nicht einmal gehört haben. Vor allem aber kann die KI standardisierte Vorgänge ausführen, und dazu gehören auch viele Arbeiten in Anwaltskanzleien: Heute geht man davon aus, dass nicht einfache Industriearbeiter am stärksten vom Einsatz von KI betroffen sind, sondern Juristen. Viele Routineaufgaben, die etwa die Hälfte des Arbeitsanfalls ausmachen, können zeit- und ressourcensparend an die KI delegiert werden. An der HSG wurden die Einsatzmöglichkeiten heutiger KI-Modelle natürlich schon x-fach durchgespielt. Zwischenstand: Sie können in der Marktforschung sehr vieles leisten, aber eine KI kann noch keine zuverlässige Due Diligence durchführen. In gewissen Anwendungsgebieten dürfte die KI auch zu absurden und kontraproduktiven Situationen führen: Etwa dann, wenn die KI einer HR-Abteilung lauter mit KI verfasste Bewerbungen sortiert.
Grosser Wachstumsschub
Bei jeder technologischen Neuerung folgt die Befürchtung, das könnte zu Arbeitsplatzverlusten führen, auf dem Fuss. Meist ist das Gegenteil der Fall. Die Mechanisierung in der Industrie führte zu mehr Wohlstand, mehr Bedürfnissen – und mehr Arbeit. Und kein Mensch würde heute behaupten, der Einsatz von Computern hätte Verwaltungen schlanker gemacht …
Wagen wir den Blick in die Kristallkugel: Wie wird sich die KI auf die Schweizer Wirtschaft auswirken wird? Professor Guido Schuster sagt, alle dazu publizierten Zahlen seien «geraten», allerdings ist auch er überzeugt, dass der Impact sehr gross sein wird. Eine spannende – geratene – Zahl findet sich in einer von Google in Auftrag gegebenen Studie. Sie geht aufgrund der Produktivitätssteigerung der Arbeitnehmer für die Schweiz in den nächsten Jahren von einer zusätzlichen Steigerung des Bruttoinlandsprodukts von 11 Prozent aus, was über 80 Milliarden Franken entspricht. Interessanter als der postulierte Wert an sich ist die Tatsache, dass die Studie allen anderen Ländern Europas tiefere Werte zuweist. Die Schweiz könnte also eine überdurchschnittliche KI-Gewinnerin sein, wenn sie am Ball bleibt. Der deutsche Informatiker Josef Hochreiter, der an der Johannes Kepler Universität in Linz das Institute for Machine Learning und das Labor für Artificial Intelligence leitet, warnt gerne publikumswirksam, dass «Europa pennt»: Die Früchte von hiesiger Grundlagenforschung ernten stets andere. Er baut deshalb an einer europäischen Version von ChatGPT, die schlanker, aber präziser sein soll. Ein Blick in Schweizer Forschungsinstitutionen zeigt: Hier wird nicht gepennt, es gibt grosses Know-how nicht nur in der Grundlagenforschung, sondern auch beim Transfer in die Praxis.
Text: Philipp Landmark
Bild: Pixabay