Strategische Personalplanung bedeutet, die Zukunft mitzugestalten
Text: Philipp Landmark
Kai Berendes, Sie haben gerade den am Ostschweizer Personaltag versammelten HR-Spezialisten empfohlen, vorausschauend zu planen.
Man kann präventiv Vitamine nehmen, um gesund zu bleiben – oder dann, wenn man Schmerzen hat, Aspirin nehmen. Das wirkt aber nur für kurze Zeit und ist keine nachhaltige Lösung. Ich bin mehr für die Vitamine.
Die Schmerzen sind der Fachkräftemangel – das ist wohl kein vorübergehendes Phänomen.
Das hat sich unter anderem über den demografischen Wandel schon länger angekündigt und wird uns auch noch bis etwas über 2030 hinaus beschäftigen. Hinzu kommen weitere Megatrends wie die Digitalisierung, welche die Herausforderungen in Teilen aufnehmen können, aber zugleich auch in einzelnen Tätigkeitsgruppen verstärken. Daher ist es wichtig, sich differenziert mit dem Risiko zukünftiger Personallücken zu beschäftigen und frühzeitig Massnahmen einzuleiten. Sonst wird es teuer und existenziell für die Organisation. Zum einen bedingt durch entgangenen Umsatz und zum anderen durch immer weiter steigende Personalkosten.
Der Wettbewerb wird schärfer. Wenn drei Unternehmen denselben Arbeitnehmer umgarnen, werden die Arbeitgeber zu den Bewerbern.
Wenn es im Bodensee weniger Fische hat, sinkt für die Fischer der Ertrag. Jetzt kann ich versuchen, ein besonderes Goodie an meinen Angelhaken zu hängen. Arbeitgeber müssen sich beispielsweise fragen, wie sie sich als Organisation möglichst attraktiv machen können. Man muss nicht gerade einen Feel-Good-Manager einstellen, aber klar ist: Die Bezahlung ist nur ein Element, um sich positiv zu positionieren – die Menge der Fische im See wird dadurch nicht grösser. Die Rekrutierung kann demnach unabhängig von den neuen, technologischen Entwicklungen nur bedingt helfen, die grundsätzliche Herausforderungen zu mildern. Neben «Buy» müssen weitere Handlungsfelder berücksichtigt werden.
Flexible Arbeitsmodelle sind en vogue.
Sie sind ein gutes Instrument, weil wir damit Arbeitskräftepotenzial in der Summe besser ausschöpfen und die stille Reserve aktivieren können. Wir müssen aber aufpassen, dass diese Modelle nicht dazu genutzt werden, die Arbeitsleistungen in Summe zu reduzieren. Das wäre dann mit Blick auf den Mangel kontraproduktiv. Manche Unternehmen gehen weiter, um die Attraktivität zu erhöhen, und erlauben Mitarbeitern ausdrücklich, auch Nebenjobs zu haben.
Um weniger zu zahlen?
Nein, um ermüdender, eintöniger Routine vorzubeugen. Arbeitnehmer können in ihrem Job unmöglich alle Stärken und Talente ausleben. Wenn der Arbeitgeber bewusst den Freiraum lässt, an ein, zwei anderen Stellen etwas Ergänzendes gegen Entgelt zu tun, ist das ein interessanter Gedankengang, um die Zufriedenheit der Mitarbeiter zu erhöhen und die Bindung zu stärken. Das setzt eine Kultur des Vertrauens voraus; diese wiederum benötigt Zeit. Da sind wir wieder bei den Vitaminen. Arbeitgeber müssen sich also einiges einfallen lassen, um zu neuen Mitarbeitern zu kommen …
… und um Mitarbeiter zu halten.
Damit sind wir bereits bei einer weiteren Option: «Bind». Vielleicht hat ein Unternehmen nicht nur einen Mehrbedarf, benötigt also zusätzliche Leute, sondern verfügt an einer anderen Ecke über Leute, die es eigentlich nicht braucht, hat also einen Minderbedarf. In solchen Fällen lohnt es sich, genau anzuschauen, ob bestehende Mitarbeiter weitergebildet werden können und so interne Mobilität geschaffen werden kann. Das ist dann die nächste Option: «Build».
Sie fordern Arbeitgeber auf, vorauszuschauen, und sprechen von strategischer Personalarbeit.
Das klingt für KMU eher abstrakt. Bisher galt dort: Wenn, eine Vakanz besteht, stellen wir eben jemanden ein. Das funktioniert heute je nach Tätigkeitsdifferenzierung nicht mehr wirklich. Darum muss ich mich frühzeitig darum kümmern – oder die Arbeit bleibt liegen und Kollegen müssen versuchen, das zu kompensieren. Das kann auf Dauer die bestehenden Mitarbeiter belasten, Ausfälle drohen – und das Problem der Unterdeckung wird verschlimmert. Auch wenn der Inhaber einer kleinen Firma seine 25 oder 50 Mitarbeiter alle kennt, lohnt es sich, zumindest ein-, zweimal im Jahr genauer hinzuschauen, wo die Mitarbeiterrisiken entlang verschiedener Dimension liegen.
Welche Dimensionen?
Beispielsweise das Alter. Dann erkennt man nämlich, dass in wenigen Jahren plötzlich ein substanzieller Teil der Belegschaft zu ersetzen ist. Mit einer strategischen Personalplanung identifiziert man Lücken frühzeitig. Eine Lücke bedeutet immer, dass der Verantwortliche wissen muss, in welchen Bereichen Unterdeckung besteht und wo es allenfalls Überhänge gibt. Heute kann eine Lücke nicht mehr problemlos über den externen Arbeitsmarkt geschlossen werden, sondern es braucht alternative Instrumente.
Das Alter der Mitarbeiter ist eine offensichtliche Dimension. Worauf sollte man sonst noch schauen?
Das Alter und die damit verbundene Wirkung auf die Menge ist nur eine, hoffentlich selbstverständliche Dimension für die Erfassung der Personaldynamik und Einordnung von Risiken. Daneben geht es auch um eine qualitative Sicht. Wie steht es um die Entwicklung der Kompetenzen? Eine weitere Dimension ist die Lokation. Wo findet die Arbeit statt und kann ich allenfalls auch Arbeit zu den Leuten bringen? Ein guter Startpunkt in die strategische Arbeit ist auch eine Einordnung in kritische und weniger kritische Jobs. Dazu kann man die Jobs segmentieren und sich auf der eine Seite fragen: Wie leicht wäre es, einen Ersatz zu bekommen und die Stelle nachzubesetzen? Und wie lange braucht es, bis der Nachfolger produktiv wird? Je länger es dauert, desto kritischer wird es. Es sei denn, die Bedeutung und Wirkung von dem Job mit Blick auf die Erfüllung des Geschäftszwecks ist eher niedrig.
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Für eine Segmentierung muss also gleichzeitig die Frage gestellt werden: Wie wichtig ist diese Funktion bei der Umsetzung des Geschäftsmodells?
Genau. Hier stellt sich die gute alte Start-up-Frage: Wen benötige ich wirklich, um meinen Geschäftszweck umzusetzen? Wen, um meine Strategie umzusetzen? Bei einem Start-up ist das alternativlos, da muss jeder sofort einen Beitrag leisten, anders geht es nicht. Sobald eine Organisation grösser wird, ist das nicht mehr so klar. Strategische Personalarbeit bedeutet also nicht gleich, mit spezialisierten Daten-Analysten die Belegschaft zu durchleuchten. Eine einfache, Holzschnitt-artige Einteilung bringt schon viele wertvolle Erkenntnisse. Das ist keine Frage der Grösse der Organisation, das ist für Kleine auch relevant.
Haben die kleineren Unternehmen das erkannt?
Bei meinem Referat am Personaltag habe ich ins Publikum gefragt, wer sein Personal über einen Zeitraum von 18 Monate hinaus betrachtet – offenbar weniger als zehn Prozent. Das ist für mich schon besorgniserregend, wenn man sich vor Augen hält, dass eine durchschnittliche Lehrlingsausbildung zwischen drei und vier Jahren dauert. Also wissen viele Unternehmen nicht, was sie mit einem Lehrling, den sie heute einstellen, in ein paar Jahren machen. In ein paar Jahren hat sich die Welt vielleicht komplett verändert. Wer weiss denn schon, welche Kompetenzen dann gefragt sind? Klar stellt ein Arbeitgeber darum die Frage: Woher soll ich denn wissen, wen ich morgen benötige? Ich habe auch keinen Zauberwürfel.
Aber Sie wissen es?
Es sind Planungsmethoden gesucht, die uns helfen, das, was wir über die Zukunft wissen, mit weiteren Annahmen zu kombinieren und so Zukunftsbilder von Szenarien entwerfen. Diese Annahmen müssen wir regelmässig überprüfen und gleichzeitig Stresstests machen. Planen bedeutet, im Kontext der strategischen Personalplanung über die Zukunft zu lernen. Ich habe viel mit Simulationen gearbeitet und Planspiele gemacht. Es fällt uns schwer, die Dynamik von Systemen in Teilen zu verstehen – und wenn wir etwas darüber verstehen, es auch in die Entscheidungsfindung einfliessen zu lassen. Wenn ich heute eine Entscheidung treffe, dann wirkt die eben erst verzögert und hat allenfalls auch noch Nebeneffekte, die ich nicht auf Anhieb erkenne. Wir müssen lernen, wie wir mit Komplexität umgehen können – und sie für uns nutzen. Es wird immer Unbestimmtheit und Unsicherheit geben, ja. Aber eine Strategie zu entwickeln und mithilfe der strategischen Personalplanung Anforderungen und Auswirkungen auf unsere Mitarbeiter zu beschreiben, bedeutet auch: Ich kann die Zukunft mitgestalten.
Moderne Unternehmen gestalten ihre Teams nach Diversity-Kriterien: Es gibt introvertierte und extrovertierte, junge und alte, weibliche und männliche Angestellte und vieles mehr. Ist das Schnee von gestern, wenn ich heute froh sein muss, überhaupt jemanden für mich gewinnen zu können?
Wenn man auf eine Lücke im Personaletat schaut, geht es erst einmal darum, ob ich die Menge, die Anzahl Mitarbeiter habe, die ich benötige. Dann geht es um die Qualität, also darum, dass die Skills passen. Aber dann gibt es natürlich noch mehr, ein Aspekt ist die Diversität: Ich benötige eine gewisse Vielfalt etwa hinsichtlich Alter, Geschlecht und Kulturkreis. Aber hier wird häufig zu wenig differenziert geschaut.
Wie differenzieren Sie Diversität?
Es gibt verschiedene Studien über Vielfalt im Management, die sagen, dass es eine positive Korrelation zur Performance gibt. Für eine Sales-Organisation sieht das vielleicht anders aus, da muss ich zuerst wissen, mit welchen Kunden ich es zu tun habe. Wenn ich eine Entwicklungsabteilung anschaue, dann sind die positiven Effekte von Vielfalt enorm. Differenzierung bedeutet für mich hier also: mit Blick auf die Tätigkeitsgruppe.
Also lohnt sich Diversität.
Nicht überall. Durchmischung kann auch dazu führen, dass wir Schwierigkeiten haben, uns auszutauschen und Produktivität verlieren, weil bestimmte Wertesysteme vielleicht anders sind. In Teams mit vier Generationen können längeren Diskussionen entstehen, die es sonst gar nicht gäbe. Insofern sollten wir nicht zu allgemein von Vielfalt und Quoten reden, sondern versuchen, die Vielfalt in der Organisation gezielt zu fördern.
Die Auswahl geeigneter Kandidaten wird immer kleiner, zumal der Zuzug von Arbeitskräften aus dem Ausland nicht mehr so einfach ist. Führt das bei gesuchten Leuten nun zu einer Lohn-Rally?
Eine Versicherung sagte mir, dass sie strategische Personalplanung betreibe und versuche, Vakanzen vorausschauend zu steuern. Eine andere Versicherung erklärte mir, das sei alles Blödsinn: Wenn sie jemanden brauchen, der nicht so leicht zu bekommen ist, würden sie einfach mehr zahlen.
Das muss man sich leisten können.
In der Tat. Eine wettbewerbsfähige Kostenposition wird bei dieser Haltung dauerhaft schwierig. Die Kosten sind ebenfalls eine der Risikodimensionen. Gleichzeitig ist der Saläraspekt nur eine Komponente für einen attraktiven Arbeitgeber. Die so gewonnen Mitarbeiter verliert man auch wieder schnell.
Dann richten wir den Blick nach innen: Eine gute Rekrutierungsmöglichkeit sind ehemalige Mitarbeiter.
Tatsächlich versuchen Unternehmen zunehmend, den Kontakt zu ehemaligen Mitarbeitern zu halten, zum Beispiel über Alumni-Netzwerke, die wir schon lange von Schulen und Hochschulen kennen. Es ist normal, dass gute Mitarbeiter auch einmal einen anderen Job oder eine andere Organisation kennenlernen wollen. Trennt man sich im Guten und hält den Kontakt, steigt auch die Chance, sie wieder zurückzugewinnen oder eine positive Empfehlung zu erhalten.
Was macht ein Unternehmen, wenn es wirklich keine geeigneten Leute mehr findet?
Dann muss ich mir ernsthaft die Frage stellen, ob ich meine Arbeit beispielsweise über den Einbezug neuer Technologien – «bot» und «boost» sind ein weiteres Handlungsfeld – anders und gegebenenfalls auch mit weniger Mitarbeitern organisieren kann oder sogar meine Geschäftsstrategie ändere. Früher waren Personalthemen eine nachgelagerte Funktion: Erst wurde die Strategie gemacht, dann musste das HR dafür sorgen, dass die benötigten Leute ins Unternehmen geholt wurden. Heute kann die Wirkung in die andere Richtung laufen: Ich formuliere die Strategie hinsichtlich Menge und Kompetenzen der Mitarbeiter, die ich überhaupt bekommen kann.
Text: Philipp Landmark
Bild: Marlies Beeler-Thurnheer