Wirtschaft

Sowenig Staat wie möglich

Sowenig Staat wie möglich
Kristiane Vietze
Lesezeit: 6 Minuten

An der diesjährigen Generalversammlung der Industrie- und Handelskammer Thurgau gab es einen Generationenwechsel im Vorstand: Präsident Christian Neuweiler übergab das Zepter an seine Nachfolgerin Kristiane Vietze. Was möchte die Frauenfelder Unternehmerin mit der IHK erreichen? Und was in Bern, falls sie im Oktober als National- oder Ständerätin gewählt wird?

Kristiane Vietze, Sie wurden am 27. April einstimmig zur Präsidentin der IHK Thurgau gewählt. Warum haben Sie sich für das Amt zur Verfügung gestellt?
Weil eine starke Wirtschaft, die auch stürmische Zeiten aushalten kann, die Basis für den Wohlstand in unserem Kanton und in der ganzen Schweiz darstellt. Sie trägt massgeblich zur hohen Lebensqualität bei. Die Löhne, Investitionen und Steuermittel, die unsere Gesellschaft am Laufen halten, werden in der Wirtschaft erwirtschaftet. Unternehmer übernehmen Verantwortung und tragen zum Funktionieren von Staat und Gesellschaft bei. Mir ist es wichtig, dass sie im Thurgau eine Stimme haben, die sich für ihre Belange einsetzt und eine Brücke zu anderen Gruppen in Politik und Gesellschaft schlägt.

Sie streben noch ein weiteres Amt an, im Herbst 2023 kandidieren Sie für den National- und den Ständerat. Wenn Sie in einen Rat gewählt werden: IHK-Präsidentin bleiben Sie?
Ja. Diese beiden Aufgaben ergänzen sich gut – es braucht mehr Unternehmerinnen in der Politik, die mit ihren Erfahrungen und Werten die Schweiz weiterbringen. Wenn man die Geschichte unseres Landes anschaut, waren es oft Personen mit einem unternehmerischen Hintergrund, die Fortschritt und Wohlstand aktiv gefördert haben.

Inwiefern stimmen die Ziele, die Sie mit der IHK Thurgau erreichen wollen, mit denen überein, die Sie als National- oder Ständerätin verfolgen möchten?
Ich stehe für eine starke Wirtschaft mit sicheren Arbeitsplätzen, erstklassige Bildung, intakte Umwelt, sichere Altersvorsorge und gesunde Staatsfinanzen in einem schlanken Staat. Das sind alles Themen, welche die IHK genauso in ihr Wirken einbezieht. Unternehmertum, Freihandel und Wettbewerb führen zu guten Arbeitsplätzen, gesunde Staatsfinanzen tragen zu erstklassiger Bildung und sicherer Altersvorsorge bei, Innovation macht Umwelt- und Klimaschutz mit nachhaltigen Technologien mach- und bezahlbar. Diese Themen können nicht getrennt werden.

 

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«Wir können es uns nicht leisten, weiterhin viel zu diskutieren und wenig zu tun.»

Was sind denn aktuell die grössten Baustellen im Kanton?
Ein Dauerbrenner ist leider das stetige Wachstum der kantonalen Verwaltung. Der Staat darf nicht einer der grössten Arbeitgeber werden, die Privatwirtschaft konkurrenzieren und immer mehr Aufgaben übernehmen, die nicht zu seinem Kernauftrag gehören. Mit der zunehmenden Digitalisierung wäre zu erwarten, dass man mit weniger Angestellten in der Verwaltung gleichviel Leistung erbringen kann. Und: Die verkehrstechnische Erschliessung des Oberthurgaus über die N23 – Stichwort Bodensee-Thurtal-Strasse – ist immer noch keine Baustelle, aber ein entscheidendes Projekt für die Entwicklung des Kantons. Schliesslich wollen wir an der Fremdwahrnehmung des Kantons arbeiten. Weg vom Apfel-Image, hin zu dem, was wir heute de facto schon sind: ein attraktiver und fortschrittlicher Standort für Familien und Unternehmen. 

Und auf Bundesebene, was fehlt der Schweiz?
Wir haben zahlreiche ungelöste Themen auf dem Tisch – bis zu innenpolitischen Blockaden, die unser Land lähmen: die Weiterentwicklung der bilateralen Verträge mit der EU, die bezahlbare Sicherung unserer Energieversorgung ohne Technologieverbote, die nachhaltige Finanzierung der Altersvorsorge, der Ausbau relevanter Verkehrsinfrastruktur oder der Erhalt von ausgezeichneten Bildungsangeboten. Hier kommen wir zu wenig voran. Es braucht wieder mehr Tatendrang und zukunftsgerichtete Würfe, die mehrheitlich getragen werden. Wir setzen zu viel Energie in den Erhalt von maroden Strukturen. Oder versuchen, diese mit «Pflästerli» zusammenzuhalten, statt neue Ansätze zu prüfen.

Wofür möchten Sie sich in Bern im Hinblick auf den Thurgau speziell einsetzen?
Wir machen sehr viel sehr gut hier. Aber wir sind abhängig von den Rahmenbedingungen, die im Parlament in Bern entworfen werden – Wirtschaft, Altersvorsorge, Bildung, Umwelt und Klima, staatliche Aufgaben: In allen diese grossen Themen müssen die Anliegen der Thurgauer, unserer Wirtschaft und Gesellschaft gehört und berücksichtigt werden. Dazu gehören Standortfragen für nationale Bildungsangebote, die ewige Baustelle BTS und unsere Haltung zur Entwicklung der Schweiz – denn diese wird auch im Thurgau gemacht, und nicht nur in ein paar grossen Zentren oder gar in der Verwaltung. Ich möchte mich dafür einsetzen, dass wir unsere Vorteile als Chancen nutzen und gleichzeitig dafür sorgen, dass wir unsere Identität wahren.

 

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«Wird verstanden, dass man sein eigenes Geld ausgibt, ändert sich auch das Verhalten.»

Der Thurgau hat ausser der PHTG keine eigene Hochschule; gerade in Zeiten des Fachkräftemangels ein Nachteil. Wie wollen Sie der Abwanderung von jungen, gut ausgebildeten Personen entgegenwirken?
Ein Perspektivenwechsel zeigt, dass der Thurgau von hochkarätigen Hochschulen umgeben ist: HSG und FH OST in St.Gallen, Exzellenz-Universität und HTWG in Konstanz, ZHAW in Winterthur und ETH sowie Universität in Zürich. Das ist eine grandiose Ausgangslage für junge Thurgauer. Wir müssen daran arbeiten, dass wir heute und in Zukunft spannende Arbeitsplätze anbieten und so die jungen Menschen nach der Ausbildung wieder zurückkommen. Hierzu können die Thurgauer Unternehmen selbst beitragen, indem sie sich als ausgezeichnete Arbeitgeber präsentieren. Die IHK errichtet in den nächsten Monaten den «Digital & Innovation Campus Thurgau» in Kreuzlingen, der ebenfalls ein Puzzle-Teil sein wird, damit unser Kanton für smarte junge Menschen attraktiv bleibt. 

Das Verständnis dafür, dass das Geld erst erarbeitet werden muss, ehe es ausgegeben werden kann, scheint gerade auf linker Seite immer häufiger zu fehlen. Sehen Sie das auch so?
Uns als IHK ist wichtig, in der Bevölkerung wieder ein besseres Verständnis dafür zu schaffen, dass wirtschaftspolitische Fragen jeden betreffen. Schliesslich ist Wirtschaft nicht Selbstzweck – die Löhne, Investitionen und Steuermittel, die unsere Gesellschaft am Laufen halten, werden in der Wirtschaft erwirtschaftet. Ob als Konsument, Mitarbeiterin, Investor, Arbeitgeberin, Steuerzahler – wir alle sind Wirtschaft. Nachhaltigkeit und Wirtschaft gehen ebenfalls Hand in Hand. Denn Unternehmen mit ihrer Innovationskraft sind Teil der Lösung, wenn es um Klima- und Umweltschutz geht. Wenn das Verständnis wieder grösser wird, dass Wirtschaft und Gesellschaft eine Einheit darstellen, löst sich auch der Knopf, von dem Sie sprechen – denn: Wird verstanden, dass man sein eigenes Geld ausgibt, und nicht das von anderen, ändert sich auch das Verhalten.

Man hat den Eindruck, es gehe den Politikern in Bern oft mehr um Profilierung und Polemik als um das Wohl der Schweiz. Das polarisiert. Wie wollen Sie hier gegensteuern?
Man sagt mir nach, dass ich eine Brückenbauerin sei und tragfähige Lösungen schaffen könne. Und das werde ich auch als eidgenössische Politikerin tun. Dabei ist mir wichtig, dass wir bei den relevanten Themen der Zeit – Energie, Europa, Bildung, Altersvorsorge, Umwelt – jetzt wirklich weiterkommen. Wir können es uns nicht leisten, im bisherigen Stil viel zu diskutieren und wenig zu tun. Das sind wir uns selbst und der nächsten Generation schuldig.

 

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«Ein Dauerbrenner ist das stetige Wachstum der kantonalen Verwaltung.»

Jeder angehende liberale National- oder Ständerat verspricht weniger Bürokratie und einen schlankeren Staat. Das Gegenteil ist der Fall: Staatsquote und Regulierungen nehmen stetig zu. Wie wollen Sie das ändern – und was machen Ihre Kollegen in Bern falsch?
Ich habe mich in den vergangenen zwölf Jahren im Thurgauer Kantonsparlament stets für eine schlanke Verwaltung und weniger Regulierung eingesetzt. Das werde ich auch mit einem Sitz in Bern nicht ändern. Als Mitglied eines Parlaments muss man sich bewusst sein, dass gerade die Arbeit in diesem schnell in neuen Gesetzen und Stellen in der Verwaltung resultieren kann. Deshalb gilt es, sehr gewissenhaft zu prüfen, welche Aufträge man der Regierung übergibt und ob all die Fachstellen für diverse Themen wirklich notwendig sind. Spannend sind dazu Ansätze, dass Gesetze ein Ablaufdatum haben könnten, dass für neue Gesetze alte ausser Kraft gesetzt werden müssen oder vorab eine Kosten-Nutzen-
Analyse gemacht wird.

Zum Schluss: In Ihrem Unterstützungsteam ist mit dem ehemaligen Grossratspräsidenten Walter Hugentobler auch ein prominenter Sozialdemokrat vertreten. Stehen Sie innerhalb der FDP so weit links, dass Sie auch für die SP wählbar sind?
Ich stehe vor allem für ein Vorwärts. Mich interessieren gute Lösungen für wichtige Probleme, dazu bringe ich gerne Menschen zusammen. Walter ist in meinem Team, weil wir uns gut verstehen, uns schon lange kennen und gut zusammenarbeiten. Es sind übrigens weitere Nicht-FDPler in meinem Team, beispielsweise Kathrin Bünter (Mitte) oder Peter Spuhler (SVP). Und ja, ich bin überzeugt, dass ich mit meinen Kompetenzen und als Person für andere Parteien wählbar bin.

Text: Stephan Ziegler

Bild: Kirsten Oertle

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