Schwerpunkt Mobilität: Ostschweiz, quo vadis?

Die Reise ins ferne Zürich wird zum Abenteuer

Die Reise ins ferne Zürich wird zum Abenteuer
Lesezeit: 4 Minuten

Das 1987 vom Volk angenommene geniale Konzept der Bahn 2000 sah vor, die wichtigen Knotenbahnhöfe der Schweiz in weniger als einer Stunde Fahrtzeit zu verbinden. In der Ostschweiz ist das immer noch Theorie, weil die Fahrt zwischen St.Gallen und Zürich zu lange dauert.

Kaum mehr als 60 Kilometer liegt St.Gallen von der Schweizer Wirtschaftsmetropole Zürich entfernt – wenn man die Luftlinie misst. In der Realität machen sowohl die Strasse als auch die Bahn einen grösseren Bogen über Winterthur. Die gefahrenen Strecken sind deutlich über 80 Kilometer lang.

Jahrelanges Missmanagement an der SBB-Spitze

In Frankreich würde eine Zugsverbindung zwischen zwei bedeutenden Städten kaum mehr als eine Viertelstunde benötigen. In St.Gallen hat man Glück, wenn man in dieser Zeit mit dem Bus an den Bahnhof gelangt. Wobei es fraglich ist, ob es sich lohnt, pünktlich am Bahnhof zu sein: Gut möglich, dass der Zug nach Zürich verspätet kommt oder gleich ganz ausfällt.

Natürlich ist es nicht so, dass die Schweizer Bahnen wie in Deutschland gänzlich nach Zufallsprinzip verkehren – noch nicht. Das Tempo der Angleichung ans nördliche Nachbarland ist aber mittlerweile beängstigend gross. Die Gründe dafür sind vielfältig, ein wesentlicher Grund ist: Die SBB sind Opfer ihres eigenen Erfolgs. Viele Züge platzen aus allen Nähten, die Kapazität der Schieneninfrastruktur ist erreicht. Schon kleine Störungen wirken sich verheerend aus. Schuld daran ist aber auch jahrelanges Missmanagement an der SBB-Spitze, der Lokführer-Mangel ist nur ein Beispiel dafür. Die Bahn-Granden haben sich schlicht verrechnet.

Schüttelzüge sind ein Flop

Für Kunden aus der Ostschweiz ist vor allem das nicht enden wollende Drama um die Schüttelzüge ein anhaltendes Ärgernis. Die neuen Doppelstockzüge für den Fernverkehr, die von den SBB bei Bombardier geordert wurden, sind der wohl teuerste Flop in der Geschichte der Rollmaterialbeschaffung in diesem Land. Der Hersteller hat nicht gehalten, was er versprochen hatte. Die SBB haben es zudem mit Sonderwünschen zu einer Mission impossible gemacht.

Die «FV Dosto» hätten mit einer Wank-Kompensation ähnlich wie die einstöckigen Neigezüge schneller durch Kurven fahren sollen als normale Züge. Die Idee der SBB lautete: So lassen sich teure Infrastrukturausbauten sparen und dennoch die nötigen Minuten einsparen, um etwa die Strecke St.Gallen–Zürich deutlich unter einer Stunde zu bewältigen.

Als die ersten Bombardier-Züge mit grosser Verspätung endlich auf den Schienen verkehrten, erwies sich der Plan als blosse Theorie: Die Züge verstärkten jedes Rumpeln und jede Auslenkung derart, dass Passagiere seekrank wurden und der Volksmund bis heute von Schüttelzügen spricht. Denn auch nach vielen beschwichtigenden Mitteilungen der SBB ist es nicht wirklich angenehmer geworden, mit diesem Zug zu fahren.

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Sorgenkind: Der «Schüttelzug» kann die geforderte Zeitersparnis nicht erbringen.
Sorgenkind: Der «Schüttelzug» kann die geforderte Zeitersparnis nicht erbringen.

Fahrplan ist Makulatur

Doch nicht nur die Fahrt mit dem FV Dosto führt zu einem «sturmen Grind», auch die Planung mit diesen Zügen bereitet Kopfzerbrechen. Die SBB mussten einsehen, dass die Wankkompensation nie mehr funktionieren wird, und damit waren auch die Fahrplan-Hoffnungen Makulatur. Die Fahrt nach Zürich bleibt ein nostalgisches Bummelzug-Erlebnis.

Ins Gewicht fallen weniger die einige Minuten längere Fahrt an sich. Wenn die Fahrzeit nicht deutlich unter eine Stunde gedrückt werden kann, ist das Angebotskonzept 2035 der SBB gefährdet, der Vollknoten St.Gallen mit koordinierten Anschlüssen in alle Richtungen funktioniert nicht. Die Fahrpläne der S-Bahn und der Appenzeller Bahnen können nicht sinnvoll angepasst werden, die Durchbindung des Interregio ins Rheintal ist ebenso gefährdet wie der Halt des «schnellen» Intercitys in Wil.

Erreichen kann man dies nur durch den Ausbau der Bahninfrastruktur, mit Neubaustrecken auf dem Abschnitt St.Gallen–Winterthur. Das ist teuer und vor allem auch zeitaufwendig, weshalb der Kanton St.Gallen nicht nur sofortige Abklärungen für Neubaustrecken verlangt, sondern auch darauf drängt, kurzfristige Massnahmen wie die Verschiebung der Abfahrtszeiten des «schnellen» Intercity zwischen Winterthur und Zürich oder eine Verlagerung des Güterverkehrs zu prüfen. Offenbar findet St.Gallen Gehör beim Bund: Gegenüber dem «Tagblatt» bestätigte jedenfalls das Bundesamt für Verkehr, dass man die Auswirkungen des Verzichts auf Neigetechnik bei den FV Dosto analysieren werde. Man wolle nun prüfen, welche Infrastrukturausbauten für die geplanten Fahrzeitverkürzungen notwendig seien.

«Ohne Brüttener Tunnel sind keine Ausbauten im Fernverkehr auf der Achse Zürich–St.Gallen möglich.»

Patrick Ruggli

Hoffen auf Brüttener Tunnel

Ein paar Minuten lassen sich auch zwischen Winterthur und Zürich finden. Dort soll eine seit 40 Jahren gewälzte Idee endlich realisiert werden: Der Brüttener Tunnel von Winterthur mit den Ästen nach Bassersdorf (weiter nach Zürich Flughafen) und Dietlikon (direkt weiter nach Zürich HB) könnte ab 2025 tatsächlich gebaut werden. Dann stünde diese Route vielleicht zum Fahrplanwechsel 2035 offen. Diese Strecken erlauben eine Fahrzeiteinsparung von einigen Minuten, sie entlasten aber vor allem die völlig ausgereizten Kapazitäten zwischen Winterthur und Zürich.

Für die Ostschweiz ist das Vorhaben im Kanton Zürich von grosser Bedeutung, wie Patrick Ruggli, der Leiter des Amts für öffentlichen Verkehr des Kantons St.Gallen, betont: «Ohne Brüttener Tunnel sind keine Ausbauten im Fernverkehr auf der Achse Zürich–St.Gallen möglich.» Das sieht auch der Thurgauer Volkswirtschaftsdirektor Walter Schönholzer so: «Der Neubau vom Brüttener Tunnel ist für den Ausbau des Bahnverkehrs in der ganzen Ostschweiz von entscheidender Bedeutung und hat deshalb Priorität.»

Neben dem Brüttener Tunnel gibt es weitere Projekte ausserhalb der Ostschweiz, die für die Ostschweizer Bahnbenutzer von grosser Bedeutung sind. Patrick Ruggli, dessen St.Galler Amt für öffentlichen Verkehr sich auch um die Bündelung der Ostschweizer Interessen kümmert, nennt etwa neue Überholgleise in Pfäffikon und Siebnen-Wangen im Kanton Schwyz: «Diese beiden Gleise sind notwendig, damit der Intercity Zürich–Sargans–Chur integral im Halbstundentakt verkehren kann.» Passagiere der S-Bahnen aus Wil und Rapperswil-Jona würden wiederum vom geplanten vierten Gleis im Bahnhof Zürich Stadelhofen profitieren.

Text: Philipp Landmark

Bild: Marlies Thurnheer, Gian Kaufmann

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