Wohn- und Arbeitsraum schaffen – Landschaft schonen
Text: Ursula Ammann
Andreas Schneider, das Bevölkerungswachstum löst bei einigen die Sorge aus, die ganze Schweiz könnte zubetoniert werden. Gibt es Grund dazu, beunruhigt zu sein?
Viele sorgen sich doch deshalb, weil ihre vertraute Umgebung sich wandelt. Man hat Angst vor dem, was man nicht kennt, Angst vor der Veränderung. Dabei wird die Tatsache ausgeblendet, dass sich laufend alles weiterentwickelt und die Schweiz schon seit Längerem nicht mehr so ländlich ist wie in der Vorstellung vieler. Der Schweizer Architekt und Herausgeber der Zeitschrift «Hochparterre», Benedikt Loderer, hat es einmal sehr treffend gesagt: Mental fühlen sich immer noch 80 Prozent der Schweizer Bevölkerung als «Dörfler». Aber vier Fünftel leben in Gebieten mit städtischem Charakter und Angebot.
Dann sind die meisten Schweizer also städtischer als sie denken?
So wie wir wirtschaftlich und kulturell agieren, sind wir eine verstädterte Gesellschaft. Nur noch die Wenigsten arbeiten in der Land- und Forstwirtschaft oder Warenproduktion. Und ohne grosses Shopping-, Sport- und Unterhaltungsangebot in der Nähe fühlen sich heute die meisten abgehängt. Am stärksten zeigt sich die ländliche Vergangenheit der Schweiz noch in unseren kleinteiligen politischen Strukturen. Aber das «schöne Dorf», wie 1939 an der Landesausstellung in Zürich zelebriert, gibt es schon lange nicht mehr.
Die Urheber der neuen Initiative «Keine 10-Millionen-Schweiz» argumentieren unter anderem, ein Bevölkerungszuwachs zerstöre unsere Natur. Sind Felder, Wiesen und Wälder in Gefahr?
Nein. Denn mit der ersten Revision des eidgenössischen Raumplanungsgesetzes 2014 ist die weitere Ausdehnung von Bauzonen praktisch gestoppt worden. Das Wachstum, das jetzt noch ansteht, muss innerhalb der bestehenden Bauzonen stattfinden. Der Bodenverbrauch pro Kopf ist übrigens wegen des begrenzten Angebots an Bauland seither gesunken.
Das Gebot der Stunde lautet «innere Verdichtung». Wie gross ist das Potenzial in Schweizer Städten und Gemeinden, Neubauten innerhalb bestehender Bauzonen zu realisieren?
Ein sehr grosses Potenzial bietet die Überbauung von Industriebrachen. Bekannte, bereits realisierte Beispiele sind etwa das Sulzer-Areal in Winterthur oder das neue Quartier rund um die Europaallee in Zürich. Allerdings sind solche Flächen auch in mittleren und kleineren Städten schon nahezu vollständig in Wert gesetzt worden. Nun gilt es, bereits bewohnte Flächen zu verdichten. Etwa, indem man ältere Wohnbauten an zentraler Lage abbricht und damit Neuprojekten mit wesentlich grösserer Kapazität Platz macht.
Führt das nicht oft zu grossem Widerstand?
Diese sogenannte «dritte Entwicklungsmöglichkeit», das «Bauen im Bestand», ist sehr anspruchsvoll. Unter anderem, weil je nach Projekt schnell 20 bis 200 Grundeigentümer sowie Bewohner ihre legitimen Interessen geltend machen können. Früher hat man einfach auf der grünen Wiese gebaut. Das hat zwar zur Zersiedelung geführt, aber meist nur wenige Personen tangiert. Die Umgestaltung von Industriebrachen war diesbezüglich schon ein Stück schwieriger, weil es dabei doch schnell um mehrere Grundeigentümer und verschiedene Nachbarn geht. Aber durch das Verdichten in bewohnten Gebieten haben die Herausforderungen nochmals zugenommen. Heute ist deshalb in der Regel mehr als die Hälfte der Planungsarbeit Prozessarbeit. Das heisst, über 50 Prozent besteht aus Verhandeln.
Oftmals blockieren Einsprachen neue Projekte über Jahre hinweg. Wie kann man in der Bevölkerung die Akzeptanz für die innere Verdichtung verbessern?
Die Akzeptanz wächst, wenn durch ein Verdichtungsprojekt auch für Be- und Anwohner Vorteile entstehen. Zum Beispiel, wenn die Umgebung nachher ruhiger und grüner ist, wenn öffentliche Einrichtungen den Ort beleben oder wenn das Projekt ganz allgemein einen Beitrag an die Aufwertung des Quartiers leistet. Eine ebenfalls wichtige Rolle spielt aber auch, dass Planerinnen und Planer mit einer klaren Vorstellung davon, was an diesem Ort grundsätzlich angemessen wäre, in die Verhandlungen gehen.
Wie viel zusätzlicher Wohn- und Arbeitsraum wird denn im Hinblick auf das prognostizierte Bevölkerungswachstum benötigt?
Zwischen 2020 und 2050 braucht es mit dem heutigen Pro-Kopf-Verbrauch schweizweit etwa 25 Prozent mehr Geschossflächen. Die Frage ist, ob man dieses Wachstum flächig überall verteilt und ein wenig aufstockt, oder ob man konzentriert an den geeignetsten Standorten verdichtet. Also in den Zentren, wo die Infrastruktur für umweltschonenden Verkehr gut ist und wo man weder in schützenswerte Landschaft noch in wertvolle historische Ortskerne eingreifen muss.
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Aber in den Städten ist die Wohnungsnot bereits sehr hoch. Wäre es denn nicht sinnvoller, vermehrt in ländlichen Gebieten anzusetzen und die Menschen mit günstigen Konditionen dorthin zu locken?
Das macht wenig Sinn. Denn damit müssten sie weitere Wege zur Arbeit zurücklegen, im schlechtesten Fall mit dem Auto. Die meisten Arbeitsplätze befinden sich in den grösseren Zentren, weil Firmen sich aufgrund der Agglomerationsvorteile vermehrt dort ansiedeln. Es gilt deshalb, Wohnraum zunehmend in den Zentren zu realisieren statt an der Peripherie. Je eher es gelingt, die Distanzen kurz zu halten, sodass sie zu Fuss oder mit dem Velo bewältigbar sind, desto geringer sind Mobilität, Umwelt- und Klimaschäden sowie Platzverbrauch.
Selbst in Schweizer Grossstädten wie Zürich oder Genf gibt es nur wenige Hochhäuser. Inwiefern gewinnt die Aufstockung von Gebäuden an Bedeutung?
Es macht viel aus, wie viel Geschosse ein Gebäude aufweist. So bietet beispielsweise ein viergeschossiger Bau bei gleicher Grundstückfläche fast doppelt so viel Wohnraum wie ein zweigeschossiger Bau. Ab 30 Metern Höhe gilt ein Gebäude in der Schweiz als Hochhaus. Allerdings stellen Hochhäuser kaum je die geeignetste Form der inneren Verdichtung dar. Wir haben vor einigen Jahren verschiedene Areale untersucht und festgestellt, dass die Dichte einer Blockrandbebauung durch Hochhäuser nur übertroffen wird, wenn sie mindestens etwa drei Mal höher sind. Um also eine 6-geschossige Regelbauweise zu übertreffen, müssen die Wohnhochhäuser mindestens 18 Geschosse oder etwa 60 Meter Höhe haben.
Das Einfamilienhaus im Grünen ist in weiten Teilen der Bevölkerung immer noch ein anstrebenswertes Ideal. Ist dieses noch zeitgemäss?
Einfamilienhäuser im Grünen sind nach dem aktuellen Raumplanungsgesetz, ausser in Baulücken, praktisch nicht mehr realisierbar. Ihre Bedeutung nimmt denn auch stark ab. Der Anteil an Wohnraum in Einfamilienhäusern beträgt heute noch etwa 20 Prozent, vor einigen Jahrzehnten waren es noch gegen 50 Prozent. Früher existierte die Vorstellung, dass Wohneigentum nur auf dem eigenen Grundstück realisiert werden sollte. Heute kaufen sich viele eine Eigentumswohnung in ein einem Mehrfamilienhaus – im Stockwerkeigentum, einer Rechtsform, die erst 1969 eingeführt wurde.