Die Mitte jagt den Grünliberalen den Sitz ab
Ständerat
Ausgangslage: Die St.Galler Ständeratswahl 2023 wurde im letzten April entschieden. Der Kanton wird in der kleinen Kammer bis 2027 von Benedikt Würth (Mitte) und Esther Friedli (SVP) vertreten. Dass am 22. Oktober eine weitere Ständeratswahl stattfindet, hat eher anekdotischen Charakter.
Eigentlich hatten sich göttliche Ordnung und liberales Weltbild in St.Gallen in je einem Ständeratssitz für die CVP und die FDP manifestiert, bis durch einen Betriebsunfall bei der CVP, dem überraschenden Verzicht von Amtsinhaber Eugen David auf einen zweiten Wahlgang, die SP die Gunst der Stunde nutzte und Paul Rechsteiner ins Stöckli hievte. Der Gewerkschaftsboss kaufte sich Krawatten und liess sich nicht mehr abwählen. Die CVP gab ihr Comeback dann doch, aber auf Kosten der Freisinnigen, als Karin Keller-Sutter in den Bundesrat einzog: Der damalige Regierungsrat Beni Würth machte das Rennen, 2019 wurde er klar bestätigt.
Dann setzte Paul Rechsteiner zu seinem letzten Schachzug als Bundesparlamentarier an und trat vorzeitig, kurz vor Ablauf der Legislatur, zurück. Rasch war klar; Wer immer die Nachfolge antreten würde, trägt keinen Schnauz. In einem denkwürdigen Match standen sich vier St. Galler Nationalrätinnen gegenüber. Nicht überraschend, aber überraschend deutlich setzte sich SVP-Programmchefin Esther Friedli im ersten Wahlgang ab. Die drittplatzierte Barbara Gysi (SP) kündigte sofort ihre erneute Kandidatur an, worauf Franziska Ryser wie im linken Lager abgemacht zurückzog und auch die zweitplatzierte Susanne Vincenz-Stauffacher (FDP) aus Realitätssinn nicht mehr antrat. Die Wahl war entschieden, die Frage war nur noch: Wie viele Stimmen holt Esther Friedli? Viele. Mit 70´449 Stimmen lag sie nahe am Ergebnis von Beni Würth 2019, der im zweiten Wahlgang 77´893 Stimmen holte.
Prognose: Für Würth wie Friedli lautet die Frage am 22. Oktober: Schaffen wir die Wahl schon heute? Im ersten Wahlgang gilt das absolute Mehr, das bei etwas über 70‘000 Stimmen liegen dürfte. Immerhin sechs weitere Kandidatinnen und Kandidaten treten bei der Ständeratswahl an und werden die Stimmen etwas aufsplittern. Uninteressant ist dieses Schaulaufen nicht. Da ist etwa SP-Mann Arbër Bullakaj, der reelle Chancen hat, bald einmal Nationalrat zu werden und nun im Wahlkampf zusätzliche Aufmerksamkeit bekommt. Die FDP macht ihren Anspruch selbstredend auch wieder geltend, glaubt aber nicht daran, das neue Ständerats-Duo bereits jetzt zu knacken. Die Freisinnigen stellen mit Oskar Seger einen vielversprechenden 33-jährigen Kantonsrat ins Schaufenster und sprechen offen von einem Perspektiv-Politiker: Von Seger wird man noch hören, jetzt ist es eine Vorstellungsrunde im grösseren Stil. Da kann er auch verkraften, dass die IHK St. Gallen-Appenzell die beiden gut vernetzten Bisherigen empfiehlt und nicht ihn, der wohl am ehesten auf dem Kurs des Wirtschaftsverbands liegt.
Ein Bekanntmachen ist die Ständeratskandidatur auch für die junge Wiler Stadtparlamentarierin Meret Grob, die sich auf der Nationalratsliste der Grünen so Vorteile im Kampf um die Plätze hinter der unangefochtenen Spitzenkandidatin Franziska Ryser verschafft. Ryser war bei ihrer ersten Wahl in den Nationalrat auch Ständeratskandidatin. Ähnlich sieht es bei Kantonsrat Andrin Monstein aus, der für die GLP antritt: Mit seiner Doppelkandidatur kann er auf der GLP-Liste nach vorne kommen.
Daneben gibt es wie so oft auch wieder Aussenseiterkandidaturen, diesmal werfen Patrick Jetzer («Aufrecht») und Stefan Hubschmid («Parteifrei») ihren Hut in den Ring.
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Ergebnis: Beni Würth und Esther Friedli werden im ersten Wahlgang bestätigt.
Nationalrat
Ausgangslage: Vor acht Jahren verloren Grüne und Grünliberale ihren jeweils einzigen Sitz im Nationalrat, vor vier Jahren gaben sie im Zeichen der «Klimawahl» ein Comeback. Das St.Galler Dutzend in der grossen Parlamentskammer setzt sich aktuell nach der Formel 4 SVP, 2 Mitte, 2 FDP, 2 SP, 1 Grüne und 1 GLP zusammen. Sowohl die SVP als auch die Mitte bzw. die damalige CVP verloren vor vier Jahren einen Sitz.
Bei der SVP wurden mit Thomas Müller und Barbara Inhelder-Keller gleich zwei bisherige abgewählt, Esther Friedli schaffte als neue Kandidatin auf Anhieb die Wahl. Bei der CVP schaffte Thomas Ammann die Wiederwahl nicht.
Vor vier Jahren war die CVP neben Listenverbindungen mit der inzwischen einverleibten BDP und der ohne eigene Ambitionen antretenden EVP auch mit der GLP eine Listenverbindung eingegangen – mit fatalen Folgen. Die CVP verzeichnete einen markanten Stimmenzuwachs, während die BDP sich quasi in Luft auflöst. Der dritte Sitz innerhalb des bunten Verbunds ging jedoch an die GLP, die ebenfalls zulegte. Nationalrat wurde eher überraschend nicht der national bekannte Infektiologe Pietro Vernazza, sondern Thomas Brunner. Nun haben SVP und Die Mitte, wie sich die mit der BDP fusionierte CVP nun nennt, gemäss nationalen Trends Aufwind und bei näherer Betrachtung im Kanton durchaus Chancen, diesen Sitz jeweils wieder zurückzugewinnen. Insbesondere Die Mitte darf den Champagner schon kühl stellen.
Die Taktik für das Vorhaben Sitzgewinn ist bei den beiden Parteien sehr unterschiedlich: Die SVP als grösste Partei tritt genau mit einer Zwölferliste an, nachdem sie früher auch mehrere Unterlisten ins Rennen schickte. Eine Handvoll Stimmen wird sie noch von der verbundenen EDU-Liste bekommen. Die Mitte dagegen schickt ins Rennen, was die Adresskartei hergibt, und hat nicht weniger als sieben eigene Listen aufgestellt.
Die FDP geht mit der gewohnten Listenstruktur – Frauenliste, Jungfreisinnige (zwei Listen), Umweltfreisinnige – ins Rennen, um auf der Hauptliste den beiden bisherigen Marcel Dobler und Susanne Vincenz-Stauffacher eine ungefährdete Wiederwahl zu ermöglichen. Nachdem der deutliche Aufwärtstrend der FDP auf der Zielgeraden wieder verpufft, dürfte der leise Traum, einen dritten Sitz zu erobern, ein Traum bleiben. Dafür müsste die FDP mit einem Wähleranteil von 15 Prozent 2019 schon gewaltig zulegen.
Auch bei der SP (mit Juso- und einer «Nachwuchs»-Liste neben der Hauptliste) sollten die beiden Sitze wieder ins Trockene gebracht werden. Alle Varianten davon sind unwahrscheinlich: Die Sozialdemokraten müssten schwächeln und im jetzt geschmiedeten Verbund, zu dem neben den Grünen neu auch die GLP gehört, noch grösseres Proporzpech als die CVP vor vier Jahren haben, um einen Sitz zu verlieren. Genauso eher unwahrscheinlich ist die umgekehrte Variante: Wenn die SP stark zulegen würde und die GLP-Stimmen nicht für einen eigenen Sitz reichen, könnte das in der Summe einen dritten Sitz für die SP geben.
Die Grünen werden verglichen zu ihrem Höhenflug 2019 wieder deutlich an Stimmen einbüssen. Um ihren Sitz zu halten, dürfen sie innerhalb der Listenverbindung nicht hinter die GLP zurückfallen. Das müsste für die Grünen mit einer starken bisherigen Kandidatin zu schaffen sein. Damit nicht doch etwas anbrennt, schicken die Grünen immerhin vier eigene Listen an den Start, von Newcomers bis Evergreens. Alle unterstützen die Hauptliste mit Franziska Ryser, die von niemandem aus den eigenen Reihen ernsthaft bedrängt werden kann. In Erinnerung rufen sich alle vier Jahre auch Parteien wie die EVP oder die EDU. Sie sind Lichtjahre von einem Sitzgewinn entfernt, es geht hier wohl eher um den olympischen Gedanken: Dabei sein ist alles.
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Neben den «üblichen Verdächtigen» beteiligen sich zudem weitere Aussenseiterlisten, oft ohne Programm, selten mit Profil und eben meistens auch ohne Chancen. Neben der Gruppierung Parteifrei sind 2023 «Aufrecht» und «Mass-Voll» mit dabei, quasi eine politische Endmoräne aus der Corona-Zeit. Bemerkenswert: Die beiden Grüppchen haben nicht einmal eine Listenverbindung. «Mass-Voll» versucht es mit drei Nasen allein, «Aufrecht» (sechs Kandidaten) hat eine Liaison mit Parteifrei (4 Namen) und den ewiggestrigen Schweizer Demokraten (drei Namen).
Unterhaltungswert haben solche Listen allemal, etwa dann, wenn «Aufrecht» ihre Liste im Netz präsentiert und verkündet, die politische Ausrichtung der Kandidierenden sei nicht massgebend. Darum verkündet ein Kandidat, es brauche wieder Politiker, «die den Schwachen im Volk dienen», während der Nächste den Sozialstaat «auf ein erträgliches Niveau» schrumpfen will. Ernsthaft auch im Programm: Das Verbot von Chemtrails.
Prognose: Bei der SVP werden die vier Bisherigen bestätigt: Lukas Reimann, Mike Egger und Roland Rino Büchel sind sichere Werte, und auch der für Esther Friedli nachgerückte Michael Götte dürfte die Wiederwahl ohne Nervenflattern schaffen. Er hatte gegenüber den anderen Leuten auf der Liste in früheren Wahlen stets eine gewisse Reserve, und verlieren wird die SVP den vierten Sitz nicht. Schafft sie es sogar, den fünften Sitz zurückzuerobern, dann dürften Kantonalpräsident Walter Gartmann oder Sascha Schmid, Vizepräsident der SVP-Fraktion im Kantonsrat, nach Bern fahren. Aussenseiterchancen hat auch Kantonsrätin Ursula Egli Seliner, die 2020 zur ersten SVP-Stadträtin der Stadt Wil gewählt wurde. So oder so müsste die Partei aber ausserordentlich gut mobilisieren; die SVP hat lediglich mit der EDU eine Listenverbindung vereinbart, viele zusätzliche Stimmen aus dem Umfeld sind also nicht zu erwarten. Fünf Sitze gab es noch, als seinerzeit Toni Brunner ein Stimmenmagnet war. Auch die letztmals gut gewählte Esther Friedli fehlt dieses Mal auf der Liste. Unter den zwölf Namen hat es gerade noch zwei Frauen.
Die einzige wirklich grosse überparteiliche Listenverbindung in St.Gallen haben 2023 SP, Grüne und GLP beschlossen ein weiteres Indiz, dass die Grünliberalen trotz des Namens eben doch klar links zu verorten sind. Am Wahltag wird es darauf hinauslaufen, dass die GLP leer ausgeht, mit ihren Stimmen aber absichert, dass die SP ihre zwei und die Grünen den einen Sitz halten können. Die Bisherige SP-Nationalrätin Barbara Gysi hat unlängst als Ständeratskandidatin im zweiten Wahlgang Esther Friedli vorzeitig zur Wahl verholfen, dennoch hat sie zumindest in ihrer eigenen Bubble mit der Aktion gepunktet. Die andere Bisherige der SP-Abordnung allerdings, Claudia Friedl, flog in den letzten Jahren weitgehend unter dem Aufmerksamkeitsradar. Vor vier Jahren folgten auf den ersten Ersatzplätzen der frühere Wiler Stadtparlamentarier Arbër Bullakaj und die heutige Fraktionspräsidentin der SP im Kantonsrat, Bettina Surber, noch mit einem Respektabstand auf Friedl. Beide treten wieder an, und ihnen ist 2023 zuzutrauen, dass sie die zweite Bisherige schon im Oktober überholen. Wenn nicht, könnte der oder die Besserplatzierte der beiden allenfalls im Laufe der nächsten Legislatur bei einem denkbaren vorzeitigen Rücktritt Friedls nachrücken. Je nachdem haben solche Überlegungen auch Einfluss auf die Wahlen im Frühling 2024: Bettina Surber bewirbt sich als als mögliche SP-Kandidatin für den Regierungsrat.
Sollte es in der nächsten Legislaturperiode wieder eine St.Galler GLP-Vertretung in Bern geben, müsste man sich an einen anderen Namen gewöhnen. Thomas Brunner tritt nach nur vier Jahren nicht mehr an, und Pietro Vernazza wurde von seiner Partei nicht nominiert. Das führte zuerst zu einigen Nebengeräuschen und dann zu einem Flirt des Mediziners mit der Mitte. Diese hätte Vernazza gerne nominiert, allerdings nur als Stimmenlieferant auf einer Nebenliste – also ohne realistische Wahlchancen, weshalb Vernazza verzichtete. Die GLP tritt nun mit einer Liste ohne eigentliches Zugpferd an, die Wahrscheinlichkeit, dass die Grünliberalen ihren Sitz wieder verlieren, ist sehr gross. Behauptet die GLP wider Erwarten den Sitz, könnten dafür die Augenärztin und St. Galler Stadtparlamentarierin Nadine Niederhauser, der Sarganser Gemeindepräsident Jörg Tanner sowie Kantonsrat und Ständeratskandidat Andrin Monstein in Frage kommen.
Die Mitte geht wie gewohnt mit zwei regional getrennten Hauptlisten an den Start. Die Liste Nord-West wird vom Bisherigen Nicolò Paganini angeführt, die Liste Süd-Ost vom Bisherigen Markus Ritter. Beide werden auch die nächsten vier Jahre im Bundeshaus politisieren. Bei einem Sitzgewinn ist der Dritte im Bund wohl auf der insgesamt stärkeren Hauptlist Süd-Ost von Bauerngeneral Ritter zu finden. Auf dieser Zwölferliste kandidieren neun Kantonsratsmitglieder, darunter die Bäuerin Barbara Dürr und der Arzt Thomas Warzinek, die 2019 hinter Ammann auf den besten Plätzen landeten. Ein gutes Resultat kann auch Franziska Steiner Kaufmann zugetraut werden, die Kantonsrätin ist auch Kantonalpräsidentin der Mitte. Bruno Cozzio, bestgewählter Kantonsrat im Wahlkreis Wil, bleibt hinter Paganini auf der Nord-West-Liste der erste Ersatzplatz.
Auf der gut besetzten FDP-Hauptliste kommen für den dritten Platz hinter Marcel Dobler und Susanne Vincenz-Stauffacher neben Ständeratskandidat Oskar Seger einige interessante Kandidaturen in Frage. Mit Christof Züger hat die FDP einen bekannten Unternehmer auf der Liste, der auch in Landwirtschaftskreisen punkten dürfte – was natürlich auch für Kantonsrat Peter Nüesch gilt, den Präsidenten des St.Galler Bauernverbandes. Mit Kantonsrätin Andrea Abderhalden stellt sich zudem die OK-Präsidentin des Schwägalp-Schwingets der Wahl, mit Kantonsrat Thomas Toldo der Präsident des St.Galler Baumeisterverbandes. Nach Bern fahren aber weiterhin nur Dobler und Vincenz.
Franziska Ryser wird auf der Liste der Grünen klar wiedergewählt werden. Gute Resultate – mit erneut grossem Abstand zur Spitzenkandidatin – darf man Kantonsrat Thomas Schwager und der Wiler Stadtparlamentarierin Meret Grob zutrauen, die als Ständeratskandidatin im Fokus steht. Viel versprechen sich die Grünen auch von Kantonsrat und Parteipräsident Daniel Bosshard und der früheren Stadträtin von Rapperswil-Jona, Rahel Würmli, diese beiden wurde gleich hinter Ryser auf die Liste gesetzt.
Alle anderen Listen werden in St.Gallen leer ausgehen, insbesondere auch die aus Corona-Nachwehen geborenen Gruppierungen. Deren Potenzial ist diffus, ansprechen können diese Listen bisherige Nicht-Wähler und solche, die am rechten Rand der SVP zu verorten sind. Die Mehrheit dieser Wählerinnen und Wähler dürfte aber geneigt sein, ihre Stimmen erfolgsversprechender für die grosse Volkspartei einzusetzen. Die Listenverbindung von Parteifrei, Aufrecht und Schweizer Demokraten müsste rund acht Prozent erreichen, um bei der Sitzverteilung eine Rolle zu spielen – diese Hürde dürfte zu hoch sein.
Ergebnis: Gewählt werden Lukas Reimann, Mike Egger, Roland Rino Büchel, Michael Götte (alle SVP), Markus Ritter, Nicolò Paganini, Thomas Warzinek (Die Mitte), Marcel Dobler, Susanne Vincenz-Stauffacher (FDP), Barbara Gysi, Arbër Bullakaj (SP), Franziska Ryser (Grüne).
Text: Philipp Landmark