Schwerpunkt Die LEADER-Wahlprognosen 2019

CH: Ein bisschen Klimawandel im Nationalrat

CH: Ein bisschen Klimawandel im Nationalrat
Lesezeit: 6 Minuten

Das links-grüne Lager wird am Abend des 20. Oktobers Grund zum Feiern haben, die erfolgsverwöhnte SVP muss dagegen wohl einige Federn lassen. Dieser nationale Trend wird sich auch in den Ostschweizer Kantonen niederschlagen, wie die Analysen auf den folgenden Seiten zeigen.

Die nationalen Wahlen vom 20. Oktober versprechen Spannung, auch wenn dramatische Verwerfungen in der Schweizer Parteienlandschaft nicht zu erwarten sind. Doch schon Verschiebungen um wenige Prozentpunkte können die Politik im Tagesgeschäft beeinflussen.

Aktuell umfassen die Fraktionen von SVP und FDP zusammen 101 der 200 Nationalratssitze. Auch wenn Wilhelm Busch warnt «Es ist schwer vorherzusagen. Besonders die Zukunft» darf man davon ausgehen, dass es diese Mehrheit in der nächsten Legislaturperiode nicht mehr geben wird. Eine Mehrheit freilich, die schon heute zu relativieren ist, denn im Ständerat werden Mehrheiten ohne die vergleichsweise kleine SVP geschmiedet.

Deutliche Trends

Obwohl der Wahlkampf in den Kantonen noch gar nicht richtig angelaufen ist, darf man bereits einige Vorhersagen wagen. Zum einen hängen Sitzgewinne oft von besonderen lokalen Konstellationen ab: im Kanton Thurgau etwa von den stets neu gestrickten Listenverbindungen, in Appenzell Innerrhoden wiederum von der Tatsache, dass zwei Bewerber der dominanten CVP um den einen Sitz im Nationalrat buhlen. Im Thurgau könnte die SVP Leidtragende der Umstände sein, in Innerrhoden könnte sie profitieren.

Das SRG-Wahlbarometer vom September prophezeit zum einen der SVP Verluste von 2,6 Prozent, zu den Verlieren gehören auch die CVP mit -1,4 und die BDP mit -1,5 Prozent Wähleranteilen. Grosse Gewinner sind die Grünen mit +3,4. Sie kommen auf über 10 Prozent und überholen knapp die CVP. Zulegen können auch die Grünliberalen mit +2,3 Prozent. SP (-0,1), FDP (+0,3) und EVP (-0,3) schneiden in der Wählergunst ähnlich ab wie 2015.

Zum anderen gibt es deutliche Trends in der Wählergunst. Dieser Trend entspricht der jüngsten Entwicklung: Berücksichtigt man die Ergebnisse aller Kantonsratswahlen seit 2015, dann hat das linksgrüne Lager insgesamt stark zugelegt. Die Nase vorn haben die Grünen, die landesweit 41 Sitze gewinnen konnten, wie die NZZ ausgerechnet hat. Die SP mit 23 und die GLP mit 16 zusätzlichen Mandaten unterstreichen den Trend, der schon vor den Klimaprotesten eingesetzt hat.

Umgekehrt haben SVP (-39), CVP (-36) und BDP (-21) markante Sitzverluste eingefahren, nur die FDP wähnte sich lange auf einem Höhenflug (+29). Dann allerdings wurde Fliegen unsexy.

App Entwicklung  Unternehmertag Vaduz  

Die FDP wird zu Umweltpartei

Die Klimadebatte hat die Freisinnigen nun ausgebremst, das erklärte Ziel von Parteichefin Petra Gössi, die SP im Nationalrat zu überflügeln, wird sie schwerlich erreichen. Vermutlich aber hat Gössi die FDP mit ihrer raschen und deutlichen Reaktion auf die Klimadiskussion vor grösserem Schaden bewahrt. Die Parteipräsidentin hat richtig erkannt, dass einem guten Teil der FDP-Basis Umwelt-Themen wichtig sind, jedenfalls wesentlich wichtiger, als sich dies in der Agenda der FDP-Fraktion im Bundeshaus spiegelt. Gössi ging nun quasi eine Wette ein: Mit der Rückbesinnung auf vergessene, aber durchaus vorhandene liberal-ökologische Tugenden kann eine Abwanderung von Stimmen insbesondere zu den Grünliberalen ein Stück weit unterbunden werden. Eine mögliche St.Galler Nationalrätin Susanne Vincenz-Stauffacher etwa könnte glaubwürdig Positionen vertreten, wie sie die Umweltfreisinnige St. Galler Ständerätin Erika Forster bereits verkörperte.

Die Zahl der verärgerten FDP-Wähler, die sich wegen des neuen Kurses nun noch weiter nach rechts orientieren, dürfte dagegen überschaubar sein. Kann die FDP ihren Besitzstand am 20. Oktober nur schon wahren, dann hat Gössi einen guten Job gemacht. Die Knochenarbeit kommt dann allerdings erst. Im erneuerten Parlament wird das erstarkte linksgrüne Lager versuchen, mit einer Flut von Verboten und Einschränkungen Umweltpolitik zu betreiben.

In diesem Umfeld vernünftige, konstruktive und tatsächlich liberale Gegenpositionen zu entwickeln, wird eine Herkulesaufgabe sein, zumal es an Verbündeten fehlt.

Kalkulierte Empörung

Anders als die FDP kann die SVP von Besitzstandswahrung nur träumen. Sie wird auch in den nächsten vier Jahren die klar stärkste Partei bleiben, doch sie dürfte am Wahlsonntag einige Blessuren erleiden. Wie im Thurgau könnte die SVP in St.Gallen und in Ausserrhoden einen Sitz verlieren, weil sie weniger Stimmen holt und gleichzeitig die Konstellation ungünstig ist. Daran ändert auch der auf Krawall gebürstete Wahlkampf der nationalen Parteileitung wenig.

Das Wahlsujet der SVP Schweiz mit dem wurmstichigen Apfel ist zuerst einmal schlicht widerlich, weil es sich ungeniert bei Nazi-Propaganda bedient. Seinerzeit im «Stürmer» wurden Juden als Ungeziefer dargestellt, heute sind es die anderen politischen Parteien («Linke und Nette») und die EU. Die Aussage ist auch höchst unschweizerisch: Unsere Demokratie lebt davon, dass Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlichster Interessen erst für ihre Ideen kämpfen, dann aber miteinander um Lösungen ringen und einen Ausgleich suchen. Wer die anderen Parteien derart verunglimpft, ist offensichtlich nicht an Lösungen interessiert.

Es überrascht deshalb nicht, dass die SVP Thurgau, die als staatstragende Partei seit je Lösungen erarbeiten muss, demonstrativ auf das Sujet verzichtet. Die Begründung auf der Website der Partei ist liebenswürdig: «Für die SVP-Thurgau ist der Apfel ein positives Sujet, wir wollen, dass dies so bleibt!» Auch andere Ostschweizer SVP-Vertreter haben unmissverständlich ihren Unmut über das Wurm-Sujet kundgetan, etwa der Fraktionschef der St. Galler SVP im Kantonsrat, Michael Götte, oder der Ausserrhoder SVP-Nationalrat David Zuberbühler.

Allein: Darauf, wo das Sujet der nationalen Dachkampagne als Plakat oder Inserat in der Ostschweiz auftauchen wird, haben die regionalen Exponenten kaum Einfluss.

Eines muss man den Chefstrategen der SVP allerdings neidlos zugestehen: Sie haben erkannt, dass ihre üblichen Wahlkampfschlager nicht ziehen, dass das Schreckpotenzial von Migration und EU auch bei der eigenen Klientel nicht viel mehr als ein müdes Lächeln hervorruft. Mit dem sackgroben Foul an den Mitbewerbern haben sie es dennoch geschafft, die kalkulierbare Empörung der Gegner zu bewirtschaften, wochenlang die thematische Lufthoheit zu erobern und die Aufmerksamkeit vom Thema Klimawandel wegzulenken. Dabei hätte die SVP hier eine klare Position: Sie negiert ihn.

Auch interessant

Zum Geleit: Verlorene vier Jahre – und es wird schlimmer
Schwerpunkt Die LEADER-Wahlprognosen 2019

Zum Geleit: Verlorene vier Jahre – und es wird schlimmer

SG: SVP und CVP verlieren einen Sitz
Schwerpunkt Die LEADER-Wahlprognosen 2019

SG: SVP und CVP verlieren einen Sitz

AR: FDP erkämpft Sitz zurück
Schwerpunkt Die LEADER-Wahlprognosen 2019

AR: FDP erkämpft Sitz zurück

Kein Wort zu wichtige Themen

Allerdings werden wir am 20. Oktober nicht einfach zu einer «Klimawahl» gerufen, wie uns Linke und Grüne eintrichtern. Die Schweiz hat auch viele andere dringende Hausaufgaben zu lösen. Als Standardtraktandum wird das Verhältnis zur EU nie von der Tagesordnung verschwinden, auch wenn einmal ein Rahmenvertrag unterzeichnet sein sollte. Die Globalisierung kann für die Schweiz weiterhin eine Erfolgsgeschichte sein, wenn sie clever agiert und rasch die Chancen neuer Technologien nutzt. Gerade hat die Finanzmarktaufsicht zwei Blockchain-Firmen eine Banklizenz ausgestellt, die Verwaltung zeigt sich erstaunlich aufgeschlossen. Von Kryptowährungen bis zu selbstfahrenden Autos konfrontiert die Digitalisierung die Politik mit unzähligen Fragestellungen, beschäftigen damit wollen sich aber nur die wenigsten. Auch Themen wie die Sanierung der Sozialwerke oder die ausufernden Gesundheitskosten eignen sich offenbar nicht als Wahlkampfschlager.

Gerade auch die SP muss sich in diesem Wahlkampf bemühen, in der grünen Euphoriewelle die eigene Position zu behaupten. Insgesamt dürfen die Sozialdemokraten aber zuversichtlich in die Wahlen gehen. Die Grünen liegen im Trend und können auch in der Ostschweiz einen, vielleicht sogar zwei Sitze gewinnen. Ein übermütiger Angriff der Grünen auf einen bürgerlichen Bundesratssitz im Dezember dürfte aber aussichtslos bleiben.

Frauen im Aufwind

Trotz Frauenstreik-Reprise dürfte die Zusammensetzung des Ständerats in der nächsten Legislatur tendenziell noch männlicher ausfallen als heute. Im Nationalrat dagegen werden die Frauen wieder zulegen können. Die Zahl der Kandidatinnen auf den verschiedenen Listen ist gewachsen, im Thurgau beispielsweise belegen Frauen fast 44 Prozent der Listenplätze. Das ist eine positive Entwicklung, doch entscheidend ist, auf welchen Listen und an welcher Stelle die Frauen stehen. Der Thurgau jedenfalls wird drei Frauen und drei Männer in den Nationalrat und je einen Mann und eine Frau in den Ständerat schicken. In den drei anderen Ostschweizer Kantonen sieht es für die Frauen zumindest im Nationalrat ziemlich gut aus. Beide Appenzell könnten jeweils einen Sitz mit einer Frau besetzen, und in St.Gallen könnten fünf der zwölf Sitze in Frauenhand landen.

Könnte – Wahlprognosen leben vom Konjunktiv. Am 20. Oktober wissen wir mehr, und dann mag für Propheten gelten, was auch für Politiker gilt: «Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?».

Schwerpunkte