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«Die chinesische Wirtschaft exportiert heute Know-how»

«Die chinesische Wirtschaft exportiert heute Know-how»
Tomas Casas Klett
Lesezeit: 11 Minuten

Allen geopolitischen Spannungen zum Trotz bleibt China auch für Ostschweizer Unternehmen ein interessanter Standort und ein wichtiger Markt, wie der Direktor des China Competence Center der HSG, Tomas Casas Klett, erklärt.

Tomas Casas Klett, seit fünf Jahren befragt das China Competence Center der HSG Schweizer Unternehmen in China. Ihre Studie «Swiss Business in China Survey 2023» zeigt: Die geopolitische Situation hat durchaus einen Einfluss auf die Investitionslust der Firmen.
Die Geopolitik ist ein relevanter Faktor, aber nicht der einzige. Die Erwartungen von Schweizer Firmen in China sind in den vergangenen Monaten zurückgegangen – sind aber noch immer auf einem guten Niveau, 50 Prozent erwarten höhere Umsätze. In einer ersten Umfrage Anfang 2022 war das durch die Pandemie verlorene Wachstum wieder vollständig aufgeholt. Über 70 Prozent der befragten Schweizer Manager gingen von höheren Umsätzen aus. Die zweite Umfrage nach dem Lockdown nur wenige Monate später fiel messbar anders aus: Sie zeigte einen drastischen Rückgang der Erwartungen. Nur noch 40 Prozent der befragten Unternehmen rechneten mit höheren Umsätzen.

Woher kam dieser plötzliche Meinungsumschwung?
Viele Befragte nannten als Ursache verschiedene Herausforderungen: die Wirtschaftskonjunktur, stärkere Konkurrenz, Regularien, höhere Kosten – und geopolitische Spannungen.

Und die führen nun zu einer Abkehr von China?
Nein, von einer Abkehr kann man keineswegs sprechen. Heute wollen immer noch 38 Prozent der Schweizer Firmen ihre Investitionen in China erhöhen, in der Befragung vor 2018 waren es noch 61 Prozent. Damals wie heute denkt nur ein Prozent der Firmen an einen Rückzug. Allerdings: Vor fünf Jahren hat niemand über geopolitische Spannungen geredet. Heute müssen die Unternehmen ihre Strategien anpassen und entwickeln.

In welche Richtung?
Viele Firmen haben das gleiche Dilemma: Wie mache ich gleichzeitig Geschäfte mit China und mit den USA? Eine Möglichkeit ist das Prinzip «China for China»: Unternehmen arbeiten in China mit chinesischen Komponenten. Vielleicht käme für ein bestimmtes Produkt der bessere Chip aus den USA, aber man weiss nicht, ob er unter Sanktionen fallen wird. Dann könnte ein Unternehmen seine Maschine in China nicht mehr verkaufen. Also baut die Firma ein lokales Produkt, das sicher regelkonform ist und den Wünschen des Kunden in China besser entspricht.

Lohnt sich das?
Viele Unternehmen tun es jedenfalls. China ist die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt. Da läuft ein Teil der internationalen Geschäfte auf parallelen Schienen. Das ist nicht sehr effizient, aber es ist doch eine Lösung.

 

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«Die Schweiz hat vor zehn Jahren ein Freihandelsabkommen mit China unterzeichnet – als erstes kontinentaleuropäisches Land.»

Aber insgesamt ist die China-Euphorie der Wirtschaft doch gedämpfter?
Gedämpfter, ja. Die Erwartungen sind aber immer noch hoch. Schweizer Firmen sind sogar spürbar optimistischer als europäische oder amerikanische. 

Weil die Schweiz glaubt, sich aus der Geopolitik heraushalten zu können?
Die Schweiz hat ein besonderes Verhältnis zu China. Die von der Kommunistischen Partei geführte Volksrepublik China wurde 1949 gegründet, die westlichen Staaten mit US-Präsident Nixon an der Spitze haben erst Mitte der 1970er-Jahre diplomatische Beziehungen mit China aufgebaut. Die Schweiz tat dies bereits 1950.

Eine Fussnote für die Geschichtsbücher.
Nein, das darf man nicht unterschätzen. In China sind Geschichte und langfristige Beziehungen sehr wichtig; die Schweizer werden in China im Vergleich zu anderen westlichen Nationen als gute Freunde angesehen. Die Schweiz hat auch vor zehn Jahren ein Freihandelsabkommen mit China unterzeichnet – als erstes kontinentaleuropäisches Land. Viele sind seither nicht dazugekommen.

Ist dieses Freihandelsabkommen im Alltag ein Vorteil?
Dieses und die damit verbundenen Zollreduktionen sind für viele Schweizer Firmen sogar ein grosser Vorteil, wenn sie mit Deutschland, Japan oder Italien konkurrieren. Im Oktober möchten wir unser Forschungsprojekt über die Nutzungsraten dieses Freihandelsabkommen veröffentlichen. Was wir jetzt schon sagen können: Viele Schweizer Firmen nützen den Vorteil aus.

Das liest sich gut in einem Wirtschaftsmagazin: Schweizer Unternehmen machen es besser als andere.
Bitte: Die Schweizer Unternehmen in China sind erfolgreicher, sie können es besser als andere. Schweizer Firmen wissen, wie man internationalisiert. Auch, weil Unternehmer aus einem kleinen Land ein viel feineres Sensorium für kulturelle Sensibilitäten haben. In Asien wird zudem auch Schweizer Qualität sehr geschätzt.

 

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Dann lohnt es sich also für ein Ostschweizer KMU, den Schritt nach China zu wagen?
Die meisten internationalisierten Ostschweizer Unternehmen haben diesen Schritt schon längst gewagt, zum Teil schon vor ein oder zwei Jahrzehnten. Sollte ein KMU, das in Europa konkurrenzfähig ist, noch nicht in China präsent sein, dann könnte diese Firma in China ihre Konkurrenzfähigkeit noch steigern und erst noch guten Umsatz erarbeiten. Ich rede mit vielen Schweizer Firmen in China, vielen geht es sehr, sehr gut. Und diejenigen Firmen, die in China erfolgreich sind, sind es dank des in China erworbenen Know-hows auch in anderen Schwellenmärkten, beispielsweise in Lateinamerika.

China sollte man also nicht ignorieren?
Wenn man international unterwegs sein möchte, ist China ein sehr wichtiger Markt. Ein Markt, wo es auch schon eine hervorragende Schweizer Firmeninfrastruktur gibt – man ist nicht allein.

Die politische Schweiz hat in den vergangenen Jahrzehnten viel dafür getan.
Ja, absolut. Das war herausragende Arbeit. Es gibt sehr starke Handelskammern, die Schweizer Botschaft ist unheimlich gut und effizient, der Swiss Business Hub China ist einzigartig vernetzt und besitzt tiefe China-Kenntnisse, und auch das Staatssekretariat für Wirtschaft Seco und das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten leisten sehr wertvolle Arbeit. Ich vergleiche hier mit den Institutionen von anderen westlichen Ländern: Die Schweizer können stolz sein auf ihre institutionelle Präsenz in China.

Wie sieht es eigentlich in der umgekehrten Richtung aus? Erobern chinesische Firmen die Welt?
Es gibt immer mehr chinesische Unternehmen, die selbst internationalisieren. Auch chinesische Firmen scheuen das geopolitische Risiko und verlegen Teile der Produktion nach Vietnam, Thailand oder Mexiko. Covid war ein grosser Schock, jetzt müssen sich die chinesischen Firmen noch erholen. Der erste Reflex der Chinesen ist oft, nach Südostasien zu gehen; Singapur profitiert im Augenblick stark von chinesischen Investitionen. In einigen Bereichen wird es für die Chinesen schwieriger, in Europa oder in den USA zu investieren, andere Branchen sind unproblematisch und geopolitisch nicht sonderlich relevant, da werden chinesische Unternehmen weiterhin expandieren.

Werden wir chinesische Investitionen in der Schweiz, insbesondere in der Ostschweiz, sehen?
Wenn chinesische Firmen in ein, zwei oder drei Jahren wieder nach Europa kommen, werden sie auch in die Schweiz kommen. Wir haben noch keine Evidenz dafür, aber ich habe ein Gefühl, dass private chinesische Unternehmen kommen werden.

 

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«Die meisten internationalisierten Ostschweizer Unternehmen haben diesen Schritt schon längst gewagt.»

Muss man dann als Schweizer Angst um unser Know-how haben? Oder sollen wir uns über neue Möglichkeiten freuen?
In vielen Industrien haben die Chinesen selbst ein grosses Know-how aufgebaut. Die Firmen, die in die Schweiz kommen würden, brächten selbst einschlägiges Wissen mit. China ist nicht mehr wie früher nur ein Empfänger von Know-how – die chinesische Wirtschaft exportiert auch Know-how, das hat sich in den vergangenen Jahren wirklich verändert. Jene chinesischen Firmen, die in die Schweiz kommen, werden in Bereichen tätig sein, wo sie selbst konkurrenzfähig sind. 

Betrachten die Chinesen die Schweiz als Markt oder als einen Hub für andere Länder?
Die Schweiz ist dann auch ein Hub für Europa.

Sind wir dafür nicht zu teuer?
Die Schweiz bietet viele Vorteile – einen liberalen Markt, moderate Steuern. Zudem denken die Chinesen sehr hierarchisch. Weil für sie Switzerland at the top ist, wollen sie da hin. Sie wollen die beste Business-Umgebung, den innovativsten Standort, die gut ausgebildeten Fachkräfte.

Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis die chinesischen Investoren kommen.
Ich habe gerade mit dem Zuständigen für chinesische Investoren im Swiss Business Hub von Switzerland Global Enterprise gesprochen: Auch er sagt, die Chinesen kommen wieder. Dieses Jahr werde noch etwas schwierig sein, aber nächstes Jahr kämen die Investoren.

Gibt es attraktive Ziele für Chinesen in der Ostschweiz?
Die Ostschweiz ist sehr stark im Maschinenbau, bei Präzisionsinstrumenten, auch in Life Sciences, und sie hat traditionsreiche Textilfirmen. Die Chinesen könnten versuchen, in den Wertschöpfungsketten dieser Unternehmen eine Nische zu besetzen. Als Käufer und Lieferanten von Produkten für verschiedene Industrien können sie zum Ökosystem der Region beitragen.

 

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Wie hat sich das Verhältnis zwischen der Schweiz und China entwickelt, seit China seine Muskeln als Weltmacht mehr spielen lässt?
Da gibt es zwei Perspektiven: eine wirtschaftliche und eine politische. Die Frage stellt sich nicht nur in der Schweiz und
in Europa, sondern auch in den Vereinigten Staaten. Tesla-Gründer Elon Musk sagte gerade in einem Interview: «Wenn Tesla weiterhin konkurrenzfähige Autos bauen will, muss Tesla im chinesischen Markt tätig sein.»

Tesla muss in China sein, um Autos zu verkaufen, oder tatsächlich, um Autos zu bauen?
Der chinesische Markt ist nicht mehr nur ein Absatzmarkt, sondern der Ursprung von Innovation, die dann eine Firma weltweit konkurrenzfähiger macht. Tesla ist sehr erfolgreich in China, aber nicht mehr die Nummer eins bei Elektrofahrzeugen, das ist unterdessen das chinesische Unternehmen BYD, das ebenso innovativ ist, aber dreimal so viele Modelle pro Jahr auf den Markt bringt.

Bisher galt China als ein günstiger Produktionsstandort, vor dem westliche Firmen ihr Know-how schützen mussten. Heute muss man nach China gehen, um Know-how zu erlangen?
Tesla ist in China, weil das Unternehmen neue, innovative Lieferanten braucht. Tesla ist innovativ, weil das Unternehmen im chinesischen Ökosystem mitspielt.

Überrascht Sie diese Entwicklung?
Das war absehbar. Die chinesische Volkswirtschaft hat wie andere Länder auch die typischen vier Phasen durchlaufen: Erst exportierte das Land billige Arbeitskraft, dann wuchs der Markt und wurde attraktiv. Die Entwicklung lief gut, also akkumulierte China Kapital, das es exportierte, indem China beispielsweise US-Treasury-Bonds kaufte – oder in der Schweiz Syngenta akquirierte. Jetzt hat China aber die vierte Phase erreicht: Das ist der Export von Know-how, Innovation, Technologie. Deswegen ist China strategisch wichtig, wenn man international konkurrenzfähig sein will. Man hat einen gewissen Druck, man trifft hier auf mehr Konkurrenz als etwa in Deutschland, weil alle da sind: die Japaner, die Amerikaner, die Koreaner, die Europäer – und natürlich die Chinesen. Dass man da vergleichsweise billig produziert, ist ein weniger wichtiges Argument.

Wenn die wirtschaftliche Perspektive so klar ist: Wie viel Platz bleibt da für politische Überlegungen?
Darf ich nochmals Elon Musk zitieren? Er sagte: «China and the West are conjoined twins», China und der Westen seien wie siamesische Zwillinge. Eine Entkopplung oder eine Deglobalisierung der Welt ist für Musk gar nicht machbar. Also müssen wir einen Weg finden, zusammenzuarbeiten.

 

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«Schweizer Firmen wissen, wie man internationalisiert.»

Das ist wieder eine wirtschaftliche Perspektive.
Es gibt ein anderes Verständnis von Entkopplung. Einerseits gibt es die Politik und die mediale Wahrnehmung, andererseits Firmen, die an Wachstum und Profit interessiert sind. Viele Geschäftsleute im Westen finden China weiterhin attraktiv und wichtig.

Politisch motivierte Sanktionen, ein Rückzug der westlichen Wirtschaft aus China ist unrealistisch, weil sich der Westen ins eigene Fleisch schneiden würde?
Ja. Der Grund ist einfach. China hat – auch mit westlicher Hilfe und westlichen Investitionen – in sehr vielen Industrien die Fabrik der Welt aufgebaut. Das waren unzählige Milliarden an Investitionen. Es sind ja nicht nur die Fabriken – auch die Arbeitskräfte, die Infrastruktur mit den Häfen, die Freihandelszonen machen China zu dem, was es heute ist. Um das alles zu organisieren und zu koordinieren, brauchte es gut 40 Jahre. Ich glaube nicht, dass wir das Gleiche im Westen oder sonst irgendwo in einem wesentlich kürzeren Zeitraum machen könnten. Weil auch unsere Ressourcen limitiert sind: Wo finden wir die ganzen Arbeitskräfte, wo finden wir die Infrastruktur, das Kapital?

In Indien?
Indien hat enormes Potenzial. Wenn man duplizieren will, was China in den vergangenen Jahrzehnten gemacht hat, braucht es wohl 20 Jahre. Das würde bedeuten, dass enorme Summen an westlichem Kapital fliessen müssen – dieses Kapital ist dann nicht verfügbar für andere Aktivitäten.

Wer investiert, will einen Return. Das wären politisch motivierte Investitionen, um dereinst ein politisch begründetes Backup zu China zu bekommen.
Die USA machen bereits solche Schritte. Mit dem CHIPS and Science Act sollen Investition von 280 Milliarden Dollar in die Forschung und in die Produktion von Halbleitern ausgelöst werden, mit dem Inflation Reduction Act werden 450 Milliarden Dollar in grüne Technologien und ins Gesundheitswesen gepumpt. Um mit China zu konkurrieren, verfolgen die USA einen alles andere als kapitalistischen Ansatz mit staatlichen Investitionen. Wenn die Massnahmen funktionieren, hat das Land mehr Produktionskapazitäten, und in gewissen Industrien hat man nicht mehr diese Abhängigkeiten von China. 

Dann wird China nicht mehr die Fabrik der Welt sein?
In den Headquarters der Schweizer Unternehmen ist die Idee, in China für die Welt zu produzieren, nicht mehr so verbreitet. Jedoch ist der chinesische Markt selbst interessant genug, nur schon deswegen werden die Firmen weiterhin in China präsent sein. Aber die Bedeutung der Produktion in China für den Weltmarkt sinkt, gerade auch nach Corona. Es ist aber immer noch ein wichtiges Geschäftsmodell, weil die chinesischen Ökosysteme einzigartig sind und die Logistik mit Häfen und Containern funktioniert. Liessen die Firmen früher ausschliesslich oder hauptsächlich in China produzieren, so suchen sie heute Kapazitäten weltweit. Man sieht auch schon Firmen wie Apple, die in Indien produzieren wollen. Indien wird sicher davon profitieren, dass die Firmen ihre Produktionsstandorte und Zulieferer diversifizieren. Auch für westliche Firmen wird Indien die nächste grosse Gelegenheit sein. Nicht nur aus geopolitischen Überlegungen, sondern auch, weil Indien ein riesengrosser Markt ist, der sich schnell entwickelt.

 

China hat ein starkes Interesse an der wirtschaftlichen Vernetzung mit dem Westen. Sollte Peking tatsächlich versuchen, sich Taiwan mit Gewalt einzuverleiben, würde sich das Land wohl selbst schaden. Wie wird diese Frage in China eingeschätzt?
Man weiss heutzutage nie, was alles passieren kann. Aber allgemein geht man davon aus, dass alle Seiten den Status quo beibehalten werden. Die taiwanesischen Eliten sind die Letzten, die ein Interesse haben, dass es eskaliert.

Dann wird ein militärischer Konflikt wieder unwahrscheinlicher?
Ich habe den Eindruck, dass der Krieg in der Ukraine eine militärische Auseinandersetzung um Taiwan unwahrscheinlicher gemacht hat. Denn ein Krieg wäre eine Riesenkatastrophe für alle. In Asien denken die Menschen tendenziell pragmatischer als im Western, es gilt «Business first». Die meisten erwarten in den nächsten Jahren keinen Konflikt.

Sie auch nicht?
Aufgrund meiner Gespräche denke ich: Der Status quo funktioniert und soll weiter funktionieren. Allerdings: Würde sich der Status quo ändern, dann hat China klare rote Linien. Völkerrechtlich ist es übrigens eindeutig, dass Taiwan ein Teil Chinas ist. Deswegen haben die Chinesen die Krim nie als Teil Russlands anerkannt. Weil die Krim völkerrechtlich zur Ukraine gehört. Die Chinesen nehmen das sehr genau.

Lässt sich der Konflikt um Taiwan dereinst friedlich lösen?
Ja, eine Win-Win-Situation ist möglich. Gleichzeitig muss man den grösseren Zusammenhang sehen. Es wird immer einen Konflikt zwischen einer bestehenden Grossmacht und einer Emerging Power, einer neuen Grossmacht, geben. Die Logik der sogenannten Thukydides-Falle galt schon vor Jahrtausenden für Sparta und Athen. Das ist eben die Geschichte der Menschheit, es gibt jetzt eine strukturelle Herausforderung zwischen den USA und China. Dieses kann man auch win-win lösen, es braucht aber Zeit und Leadership. Wenn alle Parteien sich bewusst sind, dass win-lose nicht möglich ist und zu lose-lose führt, dann wird man an einer Win-Win-Lösung arbeiten und sie auch finden.

 

Hat der Westen Mühe, China als Grossmacht zu akzeptieren?
Die Rivalität zwischen China und den USA hat mit der allgemeinen Weltordnung zu tun. Die Amerikaner haben seit dem Zweiten Weltkrieg internationale Institutionen aufgebaut und grosse Beiträge zum Wohlstand und Frieden der Welt geleistet, und die Chinesen sind durchaus auch in der Lage, produktiv mitzuwirken. Die Welt braucht die Innovation, das Kapital und die Produktionskapazitäten der beiden Supermächte. Aber eine Balance of Power, eine Weltordnung, die von einer nicht-westlichen Macht mitgeprägt ist, kann man sich im Westen noch nicht vorstellen. Dafür haben wir noch kein Konzept. China allerdings auch nicht.

Haben wir ein Problem mit der Vorstellung, weil die Chinesen Asiaten sind, oder weil sie Kommunisten mit ganz anderen Wertvorstellungen sind?
Das ist eine wichtige und wohl entscheidende Frage. Vermutlich ist es die Kombination beider Faktoren. Es gibt einen Konflikt mit China, hauptsächlich weil das Land eine aufstrebende asiatische Macht ist, die uns dereinst so überlegen sein könnte, dass wir Angst haben und um unsere legitimen Interessen bangen. Gleichzeitig ist China kommunistisch, was uns zusätzlich Mühe bereitet. Die Chinesen haben Konfuzius und Taoismus, aber keine christliche Kultur. Die chinesischen Werte sind bewundernswert und könnten sich auch auf universelle Weise entfalten, sind aber selbstverständlich andere Werte als die des Westens.

Die Frage lässt sich vielleicht beantworten, wenn in 20 oder 30 Jahren Indien eine Grossmacht wird.
Absolut. Indien ist die grösste Demokratie der Welt, es gibt auch andere Gemeinsamkeiten wie die englische Sprache. Dann werden wir sehen, wie der Westen sich verhält. Führungskräfte und Intellektuelle in Indien, mit denen ich gesprochen habe, glauben es schon zu wissen: Indien wird, ähnlich wie China, eine Herausforderung für den Westen sein. Ich bin aber optimistisch: Die unumgängliche Aufgabe der Menschheit – die produktive Zusammenarbeit in einer offenen und integrierten Welt zwischen Grossmächten mit diversen zivilisatorischen Hintergründen – wird man in den kommenden Jahrzehnten meistern müssen, und somit auch meistern.

Text: Philipp Landmark

Bild: zVg

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