Ist die Gastronomie noch zu retten?
Auf dem Stellenvermittlungsportal ostjob.ch finden sich aktuell über 300 offene Stellen in den Bereichen Gastronomie, Hotellerie und Tourismus. Allein bei den Köchen sind es über 150 Jobs, die zu vergeben wären, dazu kommen knapp 100 offene Stellen im Service. Offenbar scheint mit dem Ende der Corona-Massnahmen auch das Interesse an einer Be- schäftigung in der Gastronomie verschwunden zu sein. Noch nie war die Personalnot in dieser Branche so akut, wie heute. Dieser Umstand führt dazu, dass einige Gastrobetriebe ihr Angebot reduzieren oder zusätzliche Ruhetage einführen mussten oder im schlimmsten Fall sogar ganz geschlossen haben. Betroffen sind Betriebe jeglicher Art, Grösse und Lage.
Gründe für Schliessungen unterschiedlich
«Die Situation ist wirklich dramatisch, da sehr viele Betriebe ihre Öffnungszeiten schon reduzieren und auch noch zusätzlich einen Ruhetag mehr einschalten mussten. Es fehlt in der Küche wie auch im Service sehr viel qualifiziertes Personal», sagt Ruedi Bartel, Präsident von Gastro Thurgau. Auch sein Betrieb musste erstmals nach 40 Jahren die Öffnungszeiten anpassen und hat nun an zwei Tagen in der Woche geschlossen. Einige Betriebe hätten aber auch schliessen müssen, weil ältere Gastwirte keine Nachfolge finden konnten oder wollten, so Bartel weiter. «Wo die effektiven Gründe für Betriebsschliessungen, zusätzlichen Ruhetagen oder reduziertem Angebot liegen, ist nicht zwingend nur dem Personalmangel geschuldet», sagt auch Irene Baumann, Vizepräsidentin von Gastro St.Gallen. Die aktuelle Situation könne aber eine länger aufgeschobene Entscheidung beschleunigen. Auch in Innerrhoden sei die Situation angespannt, sagt Gastropräsident Stephan Sutter. «Trotz allem sind für uns Personalengpässe nicht ganz neu, es spitzt sich im Moment einfach etwas zu. In Appenzell Innerroden mussten bis heute aber keine Betriebe schliessen.» Neu sind Personalengpässe auch für den Ausserrhoder Gastropräsident Markus Strässle nicht. Aber: «Einen Mitarbeitermangel (nicht nur Fachkräfte) in dieser Form habe ich bis jetzt noch nicht erlebt.»
«Viele wollen nicht mehr dienen»
Markus Strässle sieht nicht nur Corona, sondern auch die Veränderung der gesellschaftlichen Werte als einen der Gründe für die aktuelle Situation. «Familie, Freizeit, Freunde und auch Hobbys haben heute den gleichen Stellenwert wie Karriere, Arbeit und Geld verdienen. Arbeitszeiten, die dies offenbar unterstützen, sind beliebter als Zimmerstundeschichten in der Gastronomie.» Ähnlich sieht das auch Irene Baumann: «Alle wollen mehr Freizeit und diese muss dann mit Erlebnissen aller Art gefüllt werden. Leider will niemand mehr die Gegenseite abdecken. Aber irgendjemand muss dieses Erlebnis ja ermöglichen. Berufe in der Gastronomie sind Dienstleistungsberufe, und diese unterliegen dem Grundsatz, dienen zu wollen.» Doch nicht nur «dienen wollen» gehört zur Arbeit in der Gastronomie, sondern unter anderem auch unregelmässige, teils lange Arbeitszeiten, körperliche Belastung und leider auch immer mal wieder mangelnde Wertschätzung seitens der Kundschaft. Das sind keine Arbeitsbedingungen, um die sich die heutige Generation an Arbeitskräften reisst. Und das in vielen Branchen eingeführte Homeoffice oder Hybrid Work ist in der Gastro schlicht nicht möglich.
Viele Mitarbeiter würden die unregelmässigen Arbeitszeiten bzw. die sogenannte Zimmerstunde (meist zwischen 14 und 17 Uhr) jedoch schätzen, erklärt Stephan Sutter. «Entweder, weil sie nicht in der Lage sind, 9 Stunden am Tag durchzuarbeiten oder diese Zeit dafür nutzen, die Aufgaben im Haus zu erledigen, oder z. B. in die Badi schwimmen zu gehen.»
Neue Arbeitsmodelle sind gefragt
Es muss sich in der Gastronomie also etwas ändern, damit die Branche wieder genügend ausgebildetes Personal und Nachwuchs findet. Doch das ist einfacher gesagt als getan. Denn die Branche muss sich nach den Gästen richten, und die kommen in der Regel (noch) vor allem am Mittag und am Abend nach der Arbeit. Somit lässt sich an den täglichen Arbeitszeiten schon mal nicht gross rütteln. Was also ist möglich? Vielerorts habe man unterdessen die Vier-Tage-Woche eingeführt und hoffe so, doch noch neue Fachkräfte zu finden, sagt Ruedi Bartel. «Auch ein abwechslungsreich gestalteter Arbeitsplan kann helfen, flexibel auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden und Gäste gleichermassen einzugehen», ist Markus Strässle überzeugt. Neben der Vier-Tage-Woche oder Teilzeit-Pensen könne das beispielsweise auch ein Jahressoll- Arbeitszeitmodell sein. «Diese Lösungen sind leider momentan noch nicht alle etabliert und auch nicht akzeptiert. Sie müssen sowohl bei den Arbeitgebern aber auch bei den Mitarbeitenden und zu guter Letzt auch bei Gesetzgeber und Arbeitgeberverbänden wachsen und sich entwickeln», so Strässle. Und: Nur gemeinsam könne man diese Krise bewältigen.
«Die Gastronomie wird sich der Gesellschaft anpassen, das war schon immer so», sagt Irene Baumann. Sie gibt aber zu bedenken, dass das «spontane Einkehren» mit geänderten Öffnungszeiten künftig möglicherweise vermehrt geplant werden müsse, da nicht mehr alle Betriebe von morgens bis abends geöffnet bleiben und allenfalls auch zusätzliche Tage den Betrieb schliessen. «Für das Personal könnte das allerdings bedeuten, dass es mehr Möglichkeiten von Teilzeitstellen oder Jobs auf Abruf oder Stundenbasis gibt. Und es gäbe auch die Möglichkeit, dass sich Betriebe gegenseitig aushelfen.» Baumann ist sicher, dass die Gastronomie mit ihren vielfältigen Weiterbildungsangeboten auch künftig für alle etwas bieten kann, die sich in dieser Branche verwirklichen wollen. Auch Quereinsteiger hätten deshalb gute Möglichkeiten, sich zu etablieren.
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Für viele nach wie vor ein Traumjob
Aber nicht nur für Quereinsteiger hat die Gastronomie einiges zu bieten, auch wer einmal im Ausland arbeiten möchte, hat in dieser Branche gute Chancen. Köche und Köchinnen, die in der Schweiz ausgebildet wurden, geniessen im Ausland nämlich grosses Ansehen. Bekanntestes Beispiel dafür dürfte Starkoch Anton Mosimann sein, der vier Generationen der britischen Königsfamilie bekochte und dafür von Königin Elisabeth II. 2004 mit dem «Order of the British Empire» für seine Verdienste um die britische Gastronomie ausgezeichnet wurde. Ob nun im Ausland oder in der Schweiz: Trotz der aktuellen Schwierigkeiten sei ein Job in der Gastronomie für viele nach wie vor ein Traumjob, ist Stephan Sutter überzeugt und man dürfe sich auch nicht von der in letzter Zeit oftmals «unfairen Berichterstattung» über die Branche abschrecken lassen. «Wir sind einer der grössten Arbeitgeber in der Schweiz. Warum wohl? Weil es eine verdammt schöne Branche ist!»