Schwerpunkt Mobilität: Ostschweiz, quo vadis?

Die Ostschweiz droht abgehängt zu werden

Die Ostschweiz droht abgehängt zu werden
Baustelle bei und unter der Olma: Die dritte Tunnelröhre der Stadtautobahn kann man hier schon erahnen.
Lesezeit: 4 Minuten

Die Verkehrserschliessung der Ostschweiz verdient nicht einmal das Prädikat «knapp befriedigend». Wichtige Projekte könnten Abhilfe schaffen, ihre Realisierung ist ungewiss.

Die Zeit der grossen Würfe in Verkehrsfragen scheint in der Schweiz längst Vergangenheit zu sein. Grosse Ideen wie das Nationalstrassennetz oder auch das Konzept Bahn 2000 wurden zu einem guten Teil realisiert, wichtige Lücken bleiben aber bis heute bestehen. Auch sind viele Verkehrsinfrastrukturen noch auf Einwohnerzahlen und Mobilitätsbedürfnisse vor einem haben Jahrhundert ausgelegt.

Lärmgeplagte Anwohner und abgehängte Wirtschaft
Den Verkehr in richtige Bahnen zu lenken, ohne ihn abzuwürgen, ist ein planerischer und politischer Hochseilakt. Gelingt er nicht, blüht eine Region abgehängt zu werden. Der Ostschweiz droht dieses Schicksal, nicht von einem Tag auf den anderen, sondern schleichend, aber stetig. Längst hat man sich daran gewöhnt, dass eine Fahrt durch die Stadt St.Gallen ins Appenzellerland ein abendfüllendes Programm wird, dass den Thurgau zu queren ein Geduldsspiel geworden ist. Und für Reisen mit der Bahn muss man mit einem gewissen Masochismus ausgestattet sein.
Einige grosse Projekte setzen genau an den neuralgischen Stellen an, doch von den ersten Strichen auf einem Plan bis zur feierlichen Eröffnung dauert es oft Jahrzehnte, viele Projekte scheitern auch oder werden durch verschiedenste Widerstände abgewürgt. Zurück bleiben ein ungelöstes Problem, eine schwierig zu erreichende Ortschaft, lärmgeplagte Anwohner, eine abgehängte Wirtschaft.

Bund übergeht Ostschweizer Kantone
Die Hauptverkehrsachse quer durch den Thurgau ist eine Abfolge von Ortdurchfahrten, der überregionale Verkehr mischt sich mit Fussgängern und Traktoren, die Anhänger voller Zuckerrüben ziehen. Kein Wunder, dass sich der Kanton eine richtige Nationalstrasse als Entlastung wünscht. Dass die Thurgauer hässig sind, weil sie beim Bund kein Gehör finden, ebenfalls. Ähnlich geht des den Appenzellern: Auch den Autobahnanschluss im Raum Gossau/Winkeln und die Umfahrung Herisau hat der Bundesrat nicht in seinem Entwurf für das nächste Strategische Entwicklungsprogramm berücksichtigt Immerhin die Engpassbeseitigung St.Gallen wird vom Bund als dringlich erachtet. Auf eine Sanierung der bald 50 Jahre alten Stadtautobahn zu verzichten, würde über kurz oder lang bedeuten, die Strecke wegen Baufälligkeit zu schliessen – was schlicht nicht möglich ist. Die geplante Engpassbeseitigung schliesst an die bereits laufende Sanierungsetappe für 600 Millionen Franken an.

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Für Reisen mit der Bahn muss man mit einem gewissen Masochismus ausgestattet sein.

Neuer Autobahnanschluss
Mit dieser Sanierung soll auch ein zusätzlicher unterirdischer Autobahnanschluss im Güterbahnhof St.Gallen entstehen. Gerade hat eine Testplanung gezeigt, dass dieses Vorhaben städtebauliche Entwicklung in keiner Weise beeinträchtigt. An den unterirdischen Kreisel soll der Liebeggtunnel als Verbindung ins Appenzellerland anschliessen – was man ohne Detailkenntnis als Argument gegen den Anschluss Appenzellerland nutzen könnte. Die Verkehrszahlen zeigen freilich, dass es beide Äste braucht. Der zusätzliche innerstädtische Anschluss entlastet den Anschluss Kreuzbleiche mit seinen chronischen Staus, der Zubringer Appenzellerland entlastet Gossau und Herisau.
Die Ostschweizer Kantonsregierungen haben dazugelernt und lassen sich bei den Verkehrsprojekten nicht auseinanderdividieren: Beide Appenzell, Thurgau und St.Gallen stehen gemeinsam und deutlich für die wichtigen Projekte in der Ostschweiz ein.

Die Bahn als konstantes Ärgernis
Beim Öffentlichen Verkehr ist die Ostschweiz noch etwas grösser: Die vier Kernkantone haben mit Glarus, Graubünden und Schaffhausen eine Vereinbarung getroffen, um die Ostschweizer Interessen besser zu bündeln. Dazu wird eine mit 30 Prozent dotierte Geschäftsstelle beim St.Galler Amt für Öffentlichen Verkehr geschaffen. Zu tun gibt es in der Ostschweiz genug, namentlich das Bahnangebot droht zunehmend schlechter zu werden. Nach der Posse mit dem Halbstundentakt im Rheintal, den die SBB kurzerhand wegsparen wollten, kam die Hiobsbotschaft, dass mit den Bombardier-Schüttelzügen die notwendige Fahrzeitverkürzung St.Gallen–Zürich nicht realisiert werden kann. Damit steht das ganze für 2035 angepeilte Knotenkonzept auf der Kippe.

Unbequem und verspätet
Wo vermeintliche Verbesserungen eingeführt werden, entpuppen sich diese oft als unfertiges Flickwerk. Regelmässig verkehren Züge ohne angekündigten Familienwagen, die Restaurants sind geschlossen oder technisch handlungsunfähig. Manchmal fallen Züge ganz aus oder verkehren massiv verspätet. Paradebeispiel ist der Zug von Zürich über St.Gallen nach München: Diese Strecke ist auch dank Schweizer Sponsoring nun zwar durchgehend elektrifiziert, es fehlen aber noch Ausbauten für Zugkreuzungen. Folge: Statt zwei der eingesetzten Astoro-Züge in Doppelkomposition fährt nur ein relativ kurzer Zug, der konsequenterweise hoffnungslos verstopft ist. Vor allem aber sind die unbequemen und engen Züge meistens verspätet. Das liegt nicht immer nur «an einem Ereignis im Ausland», wie es in Durchsagen gerne formuliert wird. Auch rund um den Bahnknoten Zürich bleiben entscheidende Minuten liegen. Von grosser Wichtigkeit für die Ostschweiz ist deshalb der Brüttener Tunnel; ohne ihn ist im Bahnverkehr über Winterthur nach Zürich keine Entwicklung mehr möglich.
Die Ostschweizer Politik scheint die Zeichen erkannt zu haben, sie tritt vergleichsweise geeint und dezidiert für Ostschweizer Interessen ein. Das lässt hoffen. Vielleicht fährt ja 2035 auf der Neubaustrecke Winterthur–St.Gallen ein bequemer Astoro-Nachfolger aus Ostschweizer Produktion pünktlich Richtung München.

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