Nationale und regionale Energiepolitik auf dem Prüfstand
Text: pd
«Ich präsentiere nur wissenschaftliche Fakten, die Politik müssen Sie machen», sagte Prof. Dr. Lino Guzzella an dem Abend auf die Frage eines Kantonsparlamentariers. Der ehemalige Rektor und Präsident der ETH Zürich wurde vom WirtschaftsPortalOst (WPO) eingeladen, um im Rahmen des neuen Anlasses «WPOlitik» über die Herausforderungen der künftigen Energieversorgung zu sprechen.
Das Publikum war bewusst ein gemischtes: Eingeladen waren die Mitglieder der St.Galler und Thurgauer Kantonsparlamente, Gemeindevertretungen sowie Vertreter der lokalen Gewerbe- und Arbeitsvereine aus der Region. Schliesslich ist es eines der erklärten Ziele von WPO, Wirtschaft und Politik in der Region kantonsübergreifend zusammenbringen.
Herausforderung Winterlücke
Die rund 60 Personen aus Wirtschaft und Politik erlebten bei den Technischen Betrieben Wil einen Anlass, der zum Denken und Diskutieren anregte. Beim Referat von Lino Guzzella, emeritierter Professor für Maschinenbau und Verfahrenstechnik, zeigte sich rasch, dass die Herausforderungen bei der künftigen Energieversorgung immens sind.
Angesichts der Elektrifizierung der Mobilität und dem vermehrten Einsatz von Wärmepumpen werde der Strombedarf trotz höherer Effizienz deutlich ansteigen, von heute 60 TWh auf 87 TWh im Jahr 2050. Alleine mit dem Zubau durch Photovoltaik-Anlagen werde die Stromlücke im Winter nicht gedeckt werden können. Zu häufig werde Leistung und Energie verwechselt und vergessen, dass eine Solaranlage nur tagsüber Strom produziere und in den Wintermonaten sowieso weniger leiste.
Dadurch würden die Schwankungen im Jahresverlauf stark zunehmen: Im Sommer werde mittags viel zu viel Strom produziert, im Winter zu wenig. Er rechnete vor, wieviel PV-Flächen nötig sein würden, um die Winterlücke schliessen zu können, oder wieviel Millionen Wasserstoff-Druckflaschen gelagert werden müssten, um den überschüssigen Sommerstrom durch Elektrolyse für den Winter speichern zu können. Ohne dass Guzzella die Zahlen weiter zu kommentieren brauchte, wurde den Zuhörern klar: Das wird nicht nur eine Herkulesaufgabe, sondern eher eine «mission impossible».
Wiler Gasausstieg bis 2050 beeinflusst ganze Region
Marco Huwiler lenkte den Blick danach auf die kantonale und regionale Ebene. Der Geschäftsführer der Technischen Betriebe Wil (TBW) skizzierte, wie der in Wil beschlossene Ausstieg aus der Gasversorgung bis 2050 umgesetzt werden soll. Der in Wil gefasste politische Entscheid hat auch Auswirkungen auf die ganze Region: Denn die TBW versorgt nicht nur Wil, sondern auch 13 weitere WPO-Mitgliedgemeinden mit Gas.
Auch er verheimlichte nicht, dass der Umbau auf erneuerbare Energien eine grosse Aufgabe mit wesentlichem Investitionsbedarf darstellt. Ein Hemmschuh für den Umbau erkennt Huwiler im Verharren in zu kleinräumigen Strukturen, insbesondere in der Ostschweiz. So gäbe es in der ganzen Schweiz rund 600 Elektrizitätsversorgungsunternehmen – davon allein in der Ostschweiz noch 200.
Energiepolitik wird rege diskutiert
Die Fragerunden nach den Referaten und auch der abschliessende Vernetzungsapéro wurde rege für die Diskussion genutzt. Zum Beispiel wurde diskutiert, dass der CO₂-Ausstoss wohl nur dann nachhaltig reduziert werden könne, wenn es wirtschaftlich attraktiv sei. Die Schweiz leiste einen höheren Beitrag gegen die Klimakrise, wenn sie dafür sorge, dass zum Beispiel Kohlekraftwerke in Osteuropa auf Gaskraftwerke umstellen würden.
Angesichts hoher Investitionskosten in den Umbau in die erneuerbaren Energien und Ausbau der Netze fragte sich ein Industrieunternehmer, wie hoch der Strompreis in Zukunft liegen werde. Er warnte, dass die Schweiz in der Energiepolitik die gleichen Fehler begehen würde wie Deutschland – mit denselben einschneidenden Folgen. Der nördliche Nachbar leide unter einer starken Deindustrialisierung.
Wegen nicht mehr wettbewerbsfähiger Energiekosten und dem Ausstieg aus den fossilen Energieträgern sehen sich immer mehr Unternehmen gezwungen, das Land zu verlassen.
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Region politisch stärken
Eingangs stellten WPO-Präsident Hansjörg Brunner und Standortförderer Robert Stadler den Verein und die Standortmarke WirtschaftsPortalOst vor und erläuterten die Absichten hinter dem neuen Anlass «WPOlitik»: Es müsse der Region besser gelingen, politisch mit einer Stimme zu sprechen und die Interessen gegenüber den Kantonen oder anderen Regionen zu vertreten – auch im St.Galler Kantonsrat und dem Thurgauer Grossen Rat.
Weil sich eine Kantonsgrenze mitten durch die Region zieht, sei dies zwar schwieriger, biete dafür aber umso mehr Chancen. Zum Beispiel, wenn Parlamentarier beider Kantone zusammenspannen und koordiniert Vorstösse in beiden Parlamenten einreichen, um so eine höhere Aufmerksamkeit für die Region erreichen.
Bisher würden sich die Kantonsparlamentarier – selbst aus denselben Parteien – von dies- und jenseits der Kantonsgrenze kaum kennen. Das kantonsübergreifende WirtschaftsPortalOst will hier Hand bieten, um diesen interkantonalen Austausch zu verbessern.