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Wie auch «amputierte» Leader erfolgreich sein können

Wie auch «amputierte» Leader erfolgreich sein können
Louis Grosjean
Lesezeit: 3 Minuten

Führungskräfte stehen vor immer komplexeren Herausforderungen. Der zunehmende Fachkräftemangel und die wachsenden Erwartungen an die Führungsqualität erfordern von Leadern nicht nur strategisches Geschick, sondern auch ein tiefes Verständnis für die Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter. LEADER-Chefredaktor Stephan Ziegler hat sich mit Louis Grosjean* über den (vermeintlichen) Zwang zur Perfektion ausgetauscht, unter dem Führungskräfte stehen.

«Sei perfekt! Ein Leader muss hohe Anforderungen erfüllen: Denken, fühlen, handeln. Wer nicht alles kann, muss weg. Oder doch nicht?» Diese Frage steht am Anfang unseres Gesprächs; Louis Grosjean wird sie mit überraschenden Antworten auflösen, so viel sei schon mal verraten. Leader, so Grosjean, seien wahre Zehnkämpfer. «Sie müssen führen, inspirieren, Energieimpulse geben, Vorbild sein, Menschen gerne haben, umsetzen und vieles mehr.» Dies alles lässt sich für ihn mit drei zentralen «Körperteilen» zusammenfassen: den Kopf für analytisch-rationale Denkfähigkeiten, das Herz für emotionale Kompetenz und Gefühle sowie die Hand für das Handeln und die Umsetzungsstärke. Doch Grosjean fragt: «Was machen wir nun mit einer Führungskraft, der eine oder sogar zwei dieser Körperteile fehlt?»

«Diese Trilogie wurde in der Management-Lehre übernommen, weil sie einleuchtend ist.»

«Lernen mit Kopf, Herz und Hand»

Hier bringt er den Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi ins Spiel, der vor etwa 200 Jahren mit seinem berühmten Spruch «Lernen mit Kopf, Herz und Hand» diese Trilogie geprägt hat. Für Grosjean ist klar, dass Pestalozzis  Trilogie ursprünglich eine Lernmethodik war, die darauf abzielte, alle Sinne ganzheitlich anzuregen. «Aber was hat das Lernen mit Leadership gemeinsam?», fragt er und gibt die Antwort gleich selbst: «Diese Trilogie wurde in der Management-Lehre übernommen, weil sie einleuchtend ist. Lernen setzt Offenheit voraus, genau wie die Bereitschaft, einem Leader zu folgen.» Grosjean betont, dass man das Denken, das Fühlen und das Handeln kombinieren müsse, wenn man lernen will – «und auch, wenn man sein Verhalten beeinflussen will». Ein Leader müsse also an alle drei Dimensionen appellieren.

Grosjean beobachtet jedoch, dass in der heutigen Welt manche Führungskräfte nicht mit allen drei Dimensionen in genügendem Ausmass ausgestattet sind. «Wir haben den Oberanalytiker, der alle Entscheide durch sein rationales Denken filtern muss und dadurch viel Zeit sowie Entscheidungsenergie verliert. Wir haben den hypersensiblen Gefühlsmenschen, der alles auf die Beziehungsebene reduziert. Und wir haben schliesslich den Bulldozer, der alles umsetzt, ohne auf die Befindlichkeiten seiner Mitmenschen Rücksicht zu nehmen oder die Konsequenzen seines Handelns durchzudenken.»

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«Leader sind wahre Zehnkämpfer.»

Selbstreflexion als Königsweg

Die grösste Schwierigkeit sieht Grosjean darin, einer Führungskraft beizubringen, dass sie «amputiert» ist – also, dass ihr eine oder zwei dieser drei Dimensionen fehlen. «Aus Angst vor Konsequenzen werden das die Mitarbeiter aber nur selten explizit sagen.» Der beste Weg, so Grosjean, sei die Selbstreflexion. «Ein Leader muss Situationen reflektieren und sich fragen, ob er diese mit dem ganzen Körper durchgespielt hat. Er sollte sich aber auch mit Leuten umgeben, die in der Lage sind, ihm ehrliches Feedback zu geben. Dazu muss er einen Rahmen schaffen und explizit um Rückmeldungen bitten.» Gehen mehrere dieser Rückmeldungen in die gleiche negative Richtung, so müsse man daraus schliessen, dass wohl ein Körperteil zu wenig entwickelt sei oder gänzlich fehle.

Der zweite Schritt, erläutert Grosjean, besteht in der Reaktion auf einen solchen Befund. «Der naheliegende Schluss wäre: Ein Leader muss Kopf, Herz und Hand haben; fehlt ihm eins davon, muss er den Sessel räumen.» Doch für Grosjean ist dies nicht der einzige Weg. «Das muss nicht sein. Jeder von uns hat seine Schwächen. Die Kunst besteht darin, diese anzuerkennen und mit den Stärken Anderer zu kompensieren.» Dies erfordere eine gewisse Grösse und sei primär eine Frage der Zusammensetzung eines Führungsgremiums. «Insbesondere der Leader muss dabei eine ‹Kompetenzen-Kompensation› im Team finden.»

Grosjean schliesst mit einem pragmatischen Ansatz: «Wenn der Leader doch zu fest amputiert ist, muss seine Rolle angepasst werden.» Er verweist auf Extrembeispiele und schlägt vor: «Der Oberanalytiker gibt vielleicht einen guten Verwaltungsrat ab. Der Hypersensible hat vielleicht eine Rolle als Pulsmesser im Betrieb. Und der Bulldozer könnte ein umsetzungsstarker Projektleiter werden.» Abschliessend betont Grosjean: «Leadership ist vielleicht mehr Kombination als Perfektion.»

Text: Stephan Ziegler

Bild: Marlies Beeler-Thurnheer

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