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«Ein Verwaltungsrat muss alles kritisch hinterfragen»

«Ein Verwaltungsrat muss alles kritisch hinterfragen»
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Hans-Jürg Bernet kennt Verwaltungsräte von börsenkotierten Unternehmen wie auch von KMU aus der Innenperspektive. Im Interview äussert er sich über die unterschiedlichen Aufgaben in diesen Gremien.

Hans-Jürg Bernet ist Dr. oec. HSG und war ab 1977 Jahre bei den Zürich Versicherungen tätig, zuletzt als CEO Schweiz und Konzernleitungsmitglied der damaligen Zurich Financial Services. Seit 2005 war er bei der Helvetia Holding, der Hälg Holding AG (Präsident) und beim Spitalverbund Appenzell Ausserrhoden im Verwaltungsrat, der Stadt-St.Galler übt heute noch Mandate bei der Medidata (Präsident), der Swica, der St.Galler Kantonalbank (Vizepräsident), der AdCubum und der City-Parking St.Gallen aus.

Hans-Jürg Bernet, wie kamen Sie zu ihrem ersten Verwaltungsratsmandat?

Als CEO der Zurich Schweiz übte ich bereits von Amtes wegen Mandate bei Tochtergesellschaften wie Genevoise, Alpina oder Altstadt aus. Am 17. November 2005 dann wurde kommuniziert, dass ich von der Position des CEO zurücktrete. Das war am Morgen, weil es börsenrelevant war. Noch am selben Nachmittag rief mich Erich Walser, der Verwaltungsratspräsident der Helvetia, an und sagte: «Du als St.Galler und Versicherungsfachmann kommst jetzt zu uns!»

Waren Sie überrascht?

Nun, ich kannte die Branche, ich hatte bei der Zurich eine grosse Führungsspanne mit 6'000 Mitarbeitern, und ich habe 2002, als das Unternehmen fast gegroundet wurde, eine grosse Sanierungsübung geleitet. Das hat mich wohl als Verwaltungsrat attraktiv gemacht. Erich Walser wollte mich schon früher als CEO gewinnen, als er selbst noch das Doppelmandat Verwaltungsratspräsident und CEO ausübte. Das war aber nicht interessant, weil ich ja CEO bei der Zurich war.

Sie haben in den letzten Jahren Einblick in etliche Verwaltungsräte erhalten. Was hat sich seit der Jahrtausendwende geändert?

Die Zusammensetzung! Ohne despektierlich zu sein: Früher spielten bei der Zusammensetzung eines Verwaltungsrats neben einer gewissen beruflichen Erfahrung, die ich nicht herunterspielen will, vor allem eine Rolle, ob jemand ein Kollege aus dem Militär oder einem Verein ist und ob man mit einer Person gut auskommt. Vor allem seit der Finanzkrise 2003 waren dann plötzlich ausgewiesene Fähigkeiten in einem Verwaltungsrat gefragt. Das war meine Chance.

Weil sich die Gewichte in der Verwaltungsratstätigkeit verschoben haben.

Heute braucht man sehr viel Zeit für die ganzen Governance-Fragen, die ganzen Compliance-Geschichten, für die Zusammenarbeit mit dem Regulator. Das ist übrigens nicht nur bei Finanzdienstleistern so, ich war ja noch Präsident der Betriebskommission des Kinderheims Tempelacker. Da war der Regulator das Amt für Soziales, auch die haben bis in Detail vieles vorgeschrieben

Sie haben sich als Verwaltungsrat für KMU und für börsenkotierte Unternehmen eingesetzt. Sind das unterschiedliche Aufgaben?

Auf jeden Fall. In einem KMU, wenn auch noch Inhaber im Verwaltungsrat sind, hat man eine ganz andere Aufgabe. Normalerweise ist eine die Hauptaufgabe eines Verwaltungsrats, Vertreter der Aktionäre zu sein und für ihr «Wohl» zu sorgen. In einer Familien-AG ist man als externer Verwaltungsrat eher ein Moderator und Coach – jemand, der seine Erfahrung weiter gibt.

Sie haben also sehr unterschiedliche Rollen wahrgenommen.

Das ist das Faszinierende an dem Portfolio von Verwaltungsratsmandaten, wie ich es hatte. In einem KMU kann man mehr gestalten als in einem grossen Unternehmen, man kann beispielsweise zu dritt auch mal spontan eine Telefonkonferenz machen.

Bei einer Helvetia würde ein dreiköpfiger Verwaltungsrat nicht funktionieren.

Ja, es braucht in börsenkotiertem Unternehmen viel mehr differenzierte Kompetenzen im Verwaltungsrat.

Früher gab es zu viele zu ähnliche Leute in einem Verwaltungsrat. Wie ist das heute?

In der Phase ab 2004 hat man klar nach Skills gesucht. Die Anforderungsprofile erfordern einen Rechnungslegungsspezialisten, einen Marktspezialisten, jemand mit Führungserfahrung, einen Juristen, jemand mit Branchenkenntnissen und so weiter. Männlein oder Weiblein war aber noch kein Thema, da muss man ehrlich sein. Vielleicht schaute man sich sogar tendenziell eher Männer an.

Hat das geändert?

Das hat massiv gedreht. Ab etwa 2012 kam die Gender-Frage auf, es gab Diskussionen auf politischer Ebene, der Bundesrat hat inzwischen eine «weiche Frauenquote» in Verwaltungsräten durchgesetzt. Für jeden Verwaltungsratspräsidenten, der eine Position neu besetzen muss, ist das Frauenthema extrem dominant.

Stört Sie das?

Wir alle haben die Genderfrage verhängt. Nicht nur bei Verwaltungsräten, auch auf Stufe Geschäftsleitungen und eigentlich überall. Deshalb haben wir jetzt einen extremen Nachholbedarf.

Die Unternehmen stehen unter Druck.

Ich verstehe den Druck. Wir müssen diesen Change hinbekommen. Nicht unbedingt mit einer Quote, aber wir müssen einen gesunden Mix in den Verwaltungsräten erreichen. Das hat im Moment den Nachteil, dass selbst hervorragende Männer praktisch keine Chance auf ein Mandat haben. Auch Unternehmen könnten hier Chancen verpassen, sich eine Top-Figur zu angeln, weil einfach der Druck da ist, eine Frau zu wählen. Aber kein Präsident, der in der Öffentlichkeit steht, kann sagen, die Genderfrage interessiere ihn nicht. Das wird sich wohl in vier, fünf Jahren wieder normalisieren. Dann ist das gegessen, wenn die Öffentlichkeit gesehen hat, dass man das Thema angepackt und gelöst hat.

Die entscheidende Frage ist wohl: Gibt es genügend geeignete Frauen für diesen Change?

Bei allen grösseren Mandaten bin ich auch in den Nominationsausschüssen, ich bin sehr stark mit dieser Frage konfrontiert. Meine Erfahrung ist: Es gibt sehr viele gute Frauen, die man vorher einfach nicht auf dem Radar hatte. Dass es gute Frauen gibt, ist nicht weiter verwunderlich: Im Jus-Studium sind heute 60 Prozent der Absolventen Frauen. An der HSG kamen zu meiner Zeit vier Frauen auf 400 Erstsemester-Studenten. Heute sind es 35 Prozent. Es ist eine andere Zeit, und darum gibt es viele gute Frauen für Verwaltungsrats-Mandate, daran zweifle ich überhaupt nicht.

Die ganze Kultur in Verwaltungsräten ist von Männern geprägt worden.

Ja, klar. Ich hatte aber zuletzt in zwei Gremien Frauen als Präsidentinnen. Das war für mich eine neue Erfahrung

Inwiefern?

Sie führen anders. Allerdings ist es schwierig zu erklären, was denn wirklich anders ist. Vielleicht ist es einfach auch ein Gefühl.

Neben dem Merkmal «Frau» ist auch das Merkmal «Digitalisierungskompetenz» gefragt.

Die Digitalisierung ist in vielen strategischen Diskussionen das wichtigste Thema. Nehmen wir den Bau: Wer nicht digitalisiert ist, kommt nicht mehr zum Zuge. In Zukunft werden Ausschreibungen der Generalunternehmer digital sein. Wenn Du selber nicht digital fit bist als Lieferant, wirst Du gar nicht mehr gefragt. Da als Verwaltungsrat rechtzeitig die Zeichen zu sehen und zu handeln, ohne gleich das Kind mit dem Bade auszuschütten, ist eine spannende Herausforderung.

Dürfen Sie als Verwaltungsrat ein Kumpel des CEO sein?

Das kommt darauf an, was man unter Kumpel versteht. Wenn ein Verwaltungsrat mit einem GL-Mitglied einen Jass klopft, dann ist das okay. Wenn aber der Verwaltungsratspräsident mit dem CEO jeden Tag zusammensitzt, alle Themen bei einem Bier schon vorbesprochen werden und es nachher im Gremium heisst «wir haben es schon geregelt, ihr könnt das noch durchwinken», dann ist das völlig daneben.

Passiert nicht genau das immer wieder?

Es gibt diese Gefahr, dass Verwaltungsratspräsident und CEO ein zu enges Gespann sind. Das kann die Entscheidungsfreiheit und die Diskussionsfreiheit in einem Verwaltungsrat massiv eingrenzen.

Wer muss eine solche Konstellation erkennen? Müssen die Aktionäre das sehen?

Das Aktionariat kann das nicht erkennen. Wenn ein Unternehmen seriös ist, macht der Verwaltungsrat regelmässig Selbstevaluationen. Bei börsenkotierten Unternehmen ist das sogar vorgeschrieben. Da kann man – nein, da muss man – solche Dinge auf den Tisch bringen.

Das bedingt, dass die Verwaltungsräte untereinander ehrlich sind.

Solche Punkte zu benennen, ist nicht immer populär. Aber die Aufgabe eines Verwaltungsrats ist ja nicht, seine Popularität zu steigern, sondern im Sinne der Sache vernünftige Lösungen zu finden.

Lässt man sich für eine Selbstevaluation von externen Leuten begleiten?

Es gibt Firmen, die das anbieten, ich habe das schon so erlebt, man kann das aber selbst machen – transparent oder auch anonym. Ich habe immer meinen Namen hingeschrieben.

Nützt das tatsächlich etwas?

Ich habe sehr gute Erfahrungen gemacht mit Selbstevaluationen, ich unterstütze das sehr. Man kann immer Schlüsse daraus ziehen. Einfaches Beispiel: Wenn herauskommt, dass ein Gremium viel zu viel Zeit für den regulatorischen Bereich braucht und zu wenig Zeit für Themen wie Markt, Kunden, Produkte hat, dann kann man als Konsequenz ein permanentes Traktandum «Markt» an den Sitzungen einführen. Damit ist man gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen.

Muss ein Verwaltungsrat misstrauisch sein?

Vertrauen ist im Prozess zwischen Verwaltungsrat und Geschäftsleitung ein ganz wichtiger Faktor. Aber nicht der einzige. Der Verwaltungsrat muss trotzdem alle Vorgänge kritisch hinterfragen. Die grösste Falle für einen Verwaltungsrat ist, wenn man sich zu wohl fühlt bei dem, was die Geschäftsleitung präsentiert.

Sie haben teilweise acht Mandate gleichzeitig ausgeübt. Wie gross war da die zeitliche Belastung?

In der Jahresbilanz sind das vielleicht 70 Prozent, aber etwa im März, wenn die Jahresabschlüsse anstehen, hatte ich Phasen mit 70-Stunden-Wochen. Dafür geht im Sommer nichts, wenn nicht gerade eine Krise zu bewältigen ist. Auch im Herbst läuft mal vier Wochen kaum etwas, ebenso über den Jahreswechsel.

Text: Philipp Landmark

Bild: Thomas Hary

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